Das Fagus-Werk in Alfeld, Kommentartext von Andreas Christoph Schmidt

Kommentartext von Andreas Christoph Schmidt. Alle Rechte beim Autor und Schmidt & Paetzel Fernsehfilme GmbH

 

10:00:13 In der Mitte Deutschlands, im Tal der Leine, zwischen Hannover und Göttingen, liegt die Stadt Alfeld.

 

10:00:34 Eine kleine Industriestadt.

 

10:00:40 Der Schornstein von SAPPI, South African Pulp and Paper Industries, Firmensitz Johannesburg, ist weithin sichtbar.

 

10:00:53 1853 wurde die Bahnlinie gebaut, und seither entstanden weitere Industriebetriebe. Einer davon ist heute das Wahrzeichen der Stadt, ihr kulturgeschichtlich bedeutendster Ort.

 

10:01:08 Das Fagus-Werk gehört seit 2011 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Der erste große Auftrag des Bauhaus-Gründers Walter Gropius.

 

10:01:46 Hier werden seit mehr als hundert Jahren Schuhleisten hergestellt, und wenn das Unternehmen heute nicht mehr von seinen Leisten allein lebt, so ist es seinem Ursprung doch treu geblieben.

 

10:02:04 Fagus heißt Buche, und Buchen wachsen reichlich auf den Hügeln um Alfeld. Die Buchenwälder haben etwas märchenhaft Verwunschenes. Ihr Holz ist der historische Rohstoff des Schuhleistens.

 

10:02:27 Seit jeher werden Schuhe auf Leisten hergestellt.

 

10:02:35 Seit die maschinelle Schuhproduktion begann, werden Leisten in großer Zahl benötigt. Die Modelle dazu entstehen nach wie vor in Handarbeit.

 

10:02:52 Der Holzleisten jedoch ist heute nur noch Kopiervorlage.

 

10:03:06 In die Schuhfabriken werden Kunststoffleisten geliefert. Aber auch bei ihrer Herstellung geht es nicht ganz ohne Handarbeit.

 

10:03:26 Die große Werkhalle. Sie ist tagesbelichtet, was angenehme Arbeitsbedingungen schafft, aber das ist nicht der einzige Grund: Strom war am Anfang des vergangenen Jahrthunderts sehr teuer. Es machte sich in der Bilanz bemerkbar, wenn tagein, tagaus Glühbirnen brannten.

 

10:04:12 Ein Unternehmer der Jahrhundertwende. Carl Benscheidt, Gründer und Patriarch des Faguswerks.

 

10:04:21 Er war viele Jahre lang Prokurist in einem älteren Unternehmen auf der anderen Seite der Bahngleise gewesen und hatte es zur größten Schuhleistenfabrik Deutschlands gemacht.

 

10:04:33 Er schied dort im Streit und unter vielen Kränkungen, und als er sein eigenes Werk entwarf, tat er es mit dem Ziel, die Firma Behrens „auf allen Gebieten“ zu übertreffen.

 

10:04:45 Benscheidt war ein Mann von Grundsätzen, ein Lebensreformer. Er hatte Naturheilkundler werden wollen, und die Herstellung von Schuhleisten war ihm auf dem Wege dorthin zugefallen.

 

10:05:00 Benscheidt wollte mehr als nur Profit, er wollte etwas schaffen, und wenn das Faguswerk ein Schritt in die architektonische Moderne war, so auch ein Schritt auf dem Weg in die moderne Arbeitswelt. In die soziale Moderne.

 

10:05:44 Abschied vom Ornament. Die Geländerspirale am Eingang zur heutigen Werkskantine, dem ehemaligen Maschinenhaus, ist wie ein letzter Schnörkel, ein ironischer Gruß an die Prunkbauweise der wilhelminischen Epoche. Der diese Fabrik ja eigentlich noch angehört. Man vergisst es leicht, sie entstand vor dem Ersten Weltkrieg.

 

10:06:09 Die großen Glasbahnen geben nicht nur Licht, sie gewähren auch den Blick nach innen. Die Arbeit findet nicht im Verborgenen statt; sie versteckt sich nicht mehr.

 

10:06:44 Das ehemalige Lagerhaus wird, seit die Buche an Bedeutung verloren hat, nicht mehr benötigt und dient heute als Museum.

 

10:06:54 Benscheidt hatte sich die Herstellung von Schuhleisten selbst beigebracht, und noch als er bereits Handelsvertreter des späteren Konkurrenten war, stellte er nachts in seiner kleinen Wohnung heimlich Schuhleisten her, um sein karges Einkommen aufzubessern.

 

10:07:20 Ein Kinderleisten und die auf einem Kinderleisten von einem Fagus-Arbeiter für sein stolzes Töchterchen gefertigten Schühchen.

…oder Söhnchen?

 

10:07:49 Die Schuhmacher, erkannte Benscheidt, würden aussterben, von der industriellen Produktion verdrängt werden. Man erklärte ihn deshalb zu einem „großen Phantasten“.

 

10:08:02 Wenn Schuhe maschinell hergestellt werden, müssen auch die dazu benötigten Leisten maschinell hergestellt werden. Die Drehbänke bezog Benscheidt aus den USA.

 

10:08:20 Und dort fand er auch seinen großen Teilhaber und Geldgeber: die United Shoe Machinery Corporation, deren daylight factory bei Boston der modernste Industriebau seiner Zeit war.

 

10:08:36 Er kehrte mit klaren Vorstellungen für seine eigene Fabrik aus den USA zurück. Gemeinsam mit einem Hannoveraner Architekten, einem Fachmann für Nutzbauten, entwarf er sie bis ins Detail. Als Benscheidt einen Brief aus Berlin erhielt, mit dem sich der junge Architekt Walter Gropius um den Bauauftrag bewarb, stand alles für ihn Wesentliche bereits fest.

 

10:09:07 Gropius war damals noch nicht der Bauhausgründer und Star-Architekt. Er war einer der begabten jungen Männer aus dem Büro von Peter Behrens. Le Corbusier ging durch Behrens´ Schule, und auch Mies van der Rohe. Dort war die epochemachende AEG-Turbinenhalle, Berlin Moabit, geplant worden.

 

10:09:39 Während bei der Turbinenhalle die Fenster abgeschrägt sind und die Pfeiler senkrecht, sind am Fagus-Werk die Pfeiler geböscht und die Fenster senkrecht.

 

10:10:06 Gropius hatte viele Bewerbungsbriefe geschrieben. Bei Benscheidt hatte er Erfolg, denn – erstens – schätzte dieser junge Männer, die ihre Sache in die Hand nehmen; er war selber nicht anders gewesen. Zweitens ging Benscheidt kein Risiko ein, da Gropius anbot, nur dann eine Rechnung zu stellen, wenn seine Entwürfe angenommen würden; drittens war Gropius ein Schwager des Alfelder Landrats, und dieser scheint auch bei Benscheidt vorstellig geworden zu sein, und viertens war Benscheidt, der doch die Konkurrenz jenseits der Bahnlinie in jeder Hinsicht übertreffen wollte, mit der geplanten Außenansicht seines Werks wirklich nicht ganz zufrieden. Die Erscheinung seiner Fabrik sollte „eine vornehme Reklame“ sein. Heute ist das Wort „Reklame“ etwas verschlissen. Man würde eher von corporate identity sprechen.

 

10:11:22 Gropius und sein Kollege Adolf Meyer entwarfen alles für ihren Auftraggeber, jedes Detail, jedes Dekor, alles fügte sich zueinander.

 

10:11:47 Im 3. Reich wurde Fagus NS-Musterbetrieb. Hohe Ehre.

 

10:11:53 Wie willkommen sie Benscheidt war, weiß man nicht.

 

10:11:56 Antreten…, Leibesübungen…, Ertüchtigung…, Appell…, Heil Hitler. Die Schnappschüsse machen auf einfache Weise deutlich, wie wenig der Nationalsozialismus und die architektonische Moderne zueinander passten. Gropius war in England, später in den USA. /12:18

 

10:12:21 Die freischwebende Treppe hinter einer stützenlosen, verglasten Ecke. Es sei die erste freischwebende Treppe, ist behauptet worden, die erste gläserne Ecke! Erstmals sei hier auf massive, dem Auge Stabilität versprechende Eckpfeiler verzichtet worden. „Erstmals“ ist das Zauberwort dieses „Ursprungsbaus der Moderne“. Gropius glaubte, hier, bei seinem ersten großen Bau, auch den ersten curtain wall, die erste Vorhangfassade der Welt gebaut zu haben. Das stimmt nicht ganz, seine Fensterbahnen sind keine Vorhangfassade, und wenn, dann wären sie nicht die erste. Und als Urbau der Moderne wurde auch schon Schinkels Preußische Bauakademie in Berlin bezeichnet. /13:12

 

10:13:14 Superlative und Rekorde. Sie halten der Prüfung nicht stand, und das Fagus-Werk braucht sie auch nicht. Wir wissen es auch so zu würdigen.

 

10:13:38 Das Treppenhaus ist – bei Einsatz sparsamster Mittel – der schönste Raum des Werks. Ein Innen- und gleichzeitig Außenraum.

 

 

10:13:49 Mag sein, daß es nicht der Ursprungsbau ist, das Fagus-Werk in Alfeld, aber es ist ein einzigartiges Haus, und es steht – am Anfang der Moderne.