Heilige Berge. Die Sacri Monti in Oberitalien, Kommentartext von Andreas Christoph Schmidt

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In den großen alten Fluren des Santuario di Oropa hän­gen Votivbilder und Gaben.

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Per grazia ricevuta – für die empfan­gene Gnade gewidmet der Gottesmutter von Oropa.

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Hier geht Guido Guizzo mit seinen Freunden auf jenen Fel­sen zu, von dem er gleich stürzen wird – die Eltern danken für sein Überleben.

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Auch Iuventus Turin bedankt sich – mit den legendären schwarz-weissen Trikots.

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Im Treppenhaus die Krücken derer, die ihre Krücken fortwar­fen.

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Alles ist ihr gedankt, der Schwarzen Madonna von Oro­pa.

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Seit Jahrhunderten tut sie Wunder, hier über der al­ten Stadt Biella im Piemont.

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Ihr Heiligtum ist heu­te eine riesi­ge Anlage, 1200 m hoch, am Rande der Bergwelt.

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Piemont, ai piedi del monte, zu Füßen des Gebirgs.

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Aber nicht der Madonna wegen ist Oropa Weltkulturer­be ge­worden, sondern wegen etwas, das hier eigent­lich Nebensa­che ist: eine Reihe kleiner Kapellen, die sich den Hang hin­anziehen. Dies ist der sacro monte, der Heilige Berg von Oropa, einer von neun sacri monti in Obertalien.

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In dieser Folge von Kapellen sind, einem Kreuzweg ähnlich, Lebensstationen Marias dargestellt, hinter verschlossenen Türen und vergitterten Fenstern. Man kann nicht einfach hingehen und angucken, die Hände in den Hosentaschen. Man muß sich beugen, spähen, einen Blick erhaschen.

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Unter den Skulpturengruppen der sacri monti zählen die von Oropa nicht zur ersten Garnitur, und wir werden diesen schö­nen Ort gleich verlassen, um uns den wirk­lich bedeutenden zuzuwenden.

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Zuvor aber noch ein Blick auf das Licht: Bei Sonnen­schein erhellt es immer nur einen Ausschnitt der Szene. Alles ande­re versinkt im Halbdunkel.

Chiaroscuro – die Lichttechnik in der Malerei der Spät­renaissance – hier findet sie ihre Anwendung in der Welt realer Körper. Beinahe lebender Körper, scheint es.

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Was die Sonne enthüllt, ist oft von so greifbarer Körper­lichkeit, daß wohl mancher fromme Pilger, der sein Auge dem Gitter näherte, zurückschrak oder auf sehr irdische Gedanken kam.

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Piemont, zu Füßen der Berge.

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Über einem kleinen Städtchen gelegen, zwischen den Schweizer Bergriesen und den oberitalienischen Seen, ganz abseits aller Touristenströme: der monte sacro di Varallo, der älteste und bedeutendste der neun heiligen Berge.

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Eine Piazza mit einer Kirche,

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ein Brunnen… ein Laden… ein Hotel… dieser Berg ist selbst wie eine kleine Stadt.

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Aber in den Häusern ringsumher wohnt niemand.

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Es sind keine Häuser, sondern Kapellen.

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Die Geschichte des Sacro Monte di Varallo beginnt mit einem Mönch, einem Franziskaner, Bernardino Caimi, der am Ende des 15. Jahrhunderts aus dem Hl. Land heim­kehrte.

Vater Bernardino wußte vielleicht, daß Jerusalem verloren war. Die Kreuzzüge waren vorüber, und sie hatten nichts gebracht außer Leid und Tod.

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Sein Schädel am Eingang zur ältesten Kapelle, der Grabkammer.

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Sie ist ganz dem Grabe Christi nachempfunden, wie es damals in Jerusalem noch zu sehen war. Heute ist dort alles anders.

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Wer sich unter diesem Stein hindurchzwängt, steht vor dem Leichnam des Gekreuzigten.

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Die älteren Figuren sind aus Holz, die späteren aus Terrakotta, lebensgroß.

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Maria Magdalena trägt das offene Haar der Sünderin.

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Mariae Verkün­digung.

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Ein großes, stummes Theater.

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So bestürzend lebensnah war die biblische Geschichte den Menschen noch nie vor Augen geführt worden, und man ahnt, wie diese expressiven Figurengruppen Zuschauer ergriffen, die nicht allzu oft ein Bildwerk zu sehen bekamen.

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Und wie sie selbst, Pilger zumeist, Teil der Komposition wurden. Ganz so wie die Randfiguren, die zu jedem Ensemble gehören: verewigte Be­trachter.

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Ankunft der Hl. 3 Könige.

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Der Kin­dermord von Bethlehem.

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Mit dem Blick eines Wahnsinnigen sieht Herodes der Untat zu, die er befohlen hat.

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Platz der Gerichte. Darstellungen Jerusalems als ideale Stadt hatte es seit jeher gegeben.

In Varallo aber wurde Jerusalem nicht dargestellt, son­dern neu erschaffen. Man betritt den Platz wie ein Wirklichkeit gewordenes Renaissance-Gemälde.

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Christus vor Kaiphas. Dieser Hohepriester – sein Gesicht bebt von widerstreitenden Gefühlen und funkelnder Boshaftigkeit. Kein Glaubensstreiter, ein Karrierist eher. Auf dem Kopf trägt er eine Mitra. Aber weil er Heide ist, trägt er sie falsch. Und sie ist mit einem Halbmond geschmückt.

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Verspottung.

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Die Kinder sind das Leben selbst. Sie sind ganz ihrem Spiel, ihrer Daseinsfreude, ihren Haustierchen und Freunden hingegeben. „Hier“, sagt ein Erwachsener zärtlich. „Schau: was dort oben passiert, ist wichtig, und du wirst noch deinen Enkeln davon erzählen.“ Aber so ein starkes irdisches Glück, ein Glück bis in die Zehen­spitzen, kann man nicht ablenken, nicht einmal mit der Passion Christi.

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Denn oben auf dem Balkon führt Pila­tus den Gepeinigten, von Wunden Entstellten, vor das Volk. „Seht, er ist nur ein Mensch!“ Wer möchte nicht weinen beim Anblick von soviel Glück und Leid.

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Auf diese Insel kam der Hl. Julius im 4. Jahrhundert. Orta San Giulio, hortus sancti Iulii – der Garten des Hl. Julius.

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Gegenüber, am Ufer des Orta-Sees, liegt ein malerisches Städtchen, und darüber der Sacro Monte di Orta.

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Nietzsche stieg hier einmal mit der von ihm begehrten Lou Salome hinauf; „der entzückendste Traum meines Lebens“, schrieb er ihr später.

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Aber nicht um Nietzsche geht es uns jetzt, sondern um diesen jungen Mann hier. Es ist der Hl. Franz, und sei­ner Vita ist der sacro monte di Orta ganz gewidmet.

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Alle anderen sacri monti Oberitaliens handeln von biblischen Dingen, meist vom Leidensweg Christi. Hier aber wird die Geschichte des Franz von Assisi erzählt, so als gehöre er, wie Jesus und Maria, zu den Gestalten der Bibel.

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Die größte und prächtigste Kapelle von Orta zeigt seine Heiligsprechung.

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Das war 1228, nur zwei Jahre nach seinem Tod.

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Was erzürnte die Zuschauer so, die hier vom Rand her einbrechen?

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Was war los, daß sogar die Schweizergarde eingriff?

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Man weiß es nicht, erinnert sich aber daran, daß der Papst seine Mühe hatte mit dem neuen Heiligen, der ein Revoluzzer gewesen war und radikaler Armut verpflichtet.

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Und daß die Kirche sich tief beugen mußte, um oben zu bleiben.

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Denn Franziskus war ein Heiliger der Herzen, er ist es ja bis heute noch.

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Performance in Assisi:

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Franziskus läßt sich nackt an ei­nem Strick durch die Stadt führen. Wie ein Esel.

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„Bru­der Esel“, so nannte er ja seinen Körper.

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Aber die Sze­ne, die Demut demonstrieren soll, erinnert sogleich an Christus auf dem Kreuzweg.

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Rundherum ein frivoles Treiben. Es ist Karneval.

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Des jungen Franziskus Erweckungserlebnis in der Kirche San Da­miano bei Assisi. Dort sprach ihn der Gekreuzigte an: „Francesco, geh und stelle mein Haus wieder her, das, wie du siehst, ganz in Ruinen liegt.“

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Wem die Botschaft noch nicht klar ist, der findet die Lösung in Kapelle 1:

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Franz wird in einer Krippe geboren – in Wahrheit in einem reichen italienischen Bürgerhau­s – und die Weiber drängten sich, das Kind zu stillen. Der kleine Franziskus aber begrüßt die Welt mit einem Segen: er ist nicht irgendein Heiliger, sondern der neu erschienene – im Abendland erschienene – Christus.

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Eine Revolution im Christentum.

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Wer heute herkommt, spürt nichts mehr davon.

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Aber ein „entzückender Traum“ – das sind die Sacri Monti noch für jeden, der einmal hier war.

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