Jasnaja Poljana, die Russen und Tolstoi, Kommentartext von Andreas Christoph Schmidt

10:00:44   Am Ende seines Lebens hatte Graf Leo Tolstoj alles, was ein Mann sich wünschen kann. Er lebte auf seinem Landgut, er war gesund und ritt aus auf seinem rassigen Pferd, er hatte eine große Familie, Kinder und Enkel.

01:07        Die Welt las seine Bücher, die bedeutendsten Künstler Russlands schufen sein Porträt. Die größten Geister der Epoche suchten das Gespräch mit ihm. Die ersten Kameraleute hielten sein Bild für die Nachwelt fest. Er hatte begeisterte Anhänger, ja Jünger, in aller Welt. Gandhi zählte zu ihnen. Aber er war nicht glücklich.

01:38       Er war ein einsamer alter Mann.

02:06       Bitow: Das war vielleicht seine große Sünde, daß er in dem Bemühen, einfach zu sein, in Wirklichkeit immer zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

02:33       Bitow: Über seine Versuchungen mag die orthodoxe Kirche richten, die dreifach ihm gegenüber im Unrecht ist und bis heute an dem Bann gegen ihn festhält. Er war ein Mann, der sich quälte. Von Anfang an war das Physische in ihm sehr stark, und später, als er das Geistige in sich entwickelte, war er zwischen zwei Mühlsteinen. Ich kenne keinen zweiten Menschen wie ihn. Diese Mühlsteine mahlten einander bis an sein Lebensende.

03:09       Andreas: Stimmt es, dass jeder Russe, wenn er einen Zug sieht, an Anna Karenina denkt?

03:17       Bitow: In meiner eigenen Erinnerung ist der russische Zug mit Bombardements verbunden.  Mit dem Versuch, aus dem belagerten Leningrad herauszukommen.

03:29       Andreas: Während der Blockade?

03:31       Bitow:  Nun ja, und wir wurden die ganze Zeit bombardiert und dann fuhr er nach Leningrad zurück, es war unmöglich, da rauszukommen.  Das war mein erster Zug. Und diese Waggons, in denen man zuvor Häftlinge transportiert hatte oder Soldaten. Die Enge dort und die Angst, hinter dem Zug zurückzubleiben, das war es, also das ist der russische Zug.

04:00       Und später, in Friedenszeiten, die Angst sich zu verspäten.

04:10       Und dann sehr viel später, denke ich, war es die Angst, keine Fahrkarte zu bekommen.

04:21       Und noch später, das hat dann bereits Wenedikt Jerofejew verewigt, war es die Angst vor dem Kontrolleur, wenn man keine Fahrkarte hatte. Das alles ist der russische Zug. Die Jungs da drüben, die Karten spielen, das ist der russische Zug.

05:03       Bitow: Tolstoj hatte übrigens deutsches Blut in den Adern.

05:11       Unser russischer Graf hatte viel deutsches Blut. Ich weiß nicht genau wieviel.

05:25       Die Bahnstation gab es schon zu Tolstojs Tagen. Er mochte Züge nicht, heißt es, aber er benutzte sie oft. Und in seinem Werk fahren viele Züge.

05:53       „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche aber ist auf ihre Art unglücklich.“

06:02       Der erste Satz aus „Anna Karenina“, der größte erste Satz der russischen Romanliteratur. Geschrieben wurde er, als Tolstojs eigene Ehe noch glücklich war. Zumindest glaubte das seine Frau, die jedes Wort für ihn abschrieb und wieder abschrieb.

06:23       Sie wollte den Zug nicht sehen, der auf sie zurollte.

06:35       „Anna Karenina“ im Film, England 1948. Sie wird von einem Zug überrollt werden, so endet ihr Roman.

06:50       Bereits in Tolstojs Todesjahr, 1910, entstand die erste filmische Adaption, und danach mehr als zwanzig, die jüngste 2009.

07:05        Der Film liebt bekanntlich die Dampflok und nahm sich mit Freuden der Selbstmörderin an. Hier trifft es Vivien Leigh, sie war vielleicht die zarteste, verletzlichste Anna.

07:27        Vor ihr war Greta Garbo unter die Räder gekommen, nach ihr, völlig durchgedreht, Tatjana Samojlowa im Film von Alexander Sarchi. Ferner Jaqueline Bisset, Sophie Marceau, zuletzt Tanja Drubitsch.

07:49        Annas Schöpfer starb auf einer kleinen Bahnstation. Er war auf der Flucht vor seiner Frau. Vor seinem Leben, das er als falsch und sinnlos empfand. Er wollte irgendwohin, wo es besser sei. Und kam bis Astapowo, im Kreis Lipezk, ein paar hundert Kilometer weit.

08:14       Prilepin: Hallo, grüß Dich! Bist Du heil zurück? Glückwunsch! Ich bin in der Tulaer Gegend. Fahre nach Jasnaja Poljana.

08:36       Ich dachte, Du bleibst noch. Nun gut, dann sehen wir uns am achten.

08:48       Hast du auch nichts abbekommen? Ist alles in Ordnung?

09:38       Tolstoj: Guten Morgen Marina! Alles in Ordnung? – Das ist schön.

09:50       Gott, was für ein zauberhafter Morgen!

10:17       Tolstoj: Guten Morgen mein Lieber! Der Tee ist fertig! Die anderen werden auch gleich da sein!

10:21       Otroschenko: Ich komme gleich, erst duschen!

11:04       Truchatschewa: Lew Nikolaewitsch Tolstoj ist unser großer russischer Schriftsteller. In Jasnaja Poljana kam er zur Welt, und er verlebte hier mehr als sechzig Jahre. Hier schrieb er alle seine großen Werke, von denen die Romane Krieg und Frieden und Anna Karenina wohl die berühmtesten sind.

11:34       Wer zum ersten Mal nach Jasnaja Poljana kommt und die Grenze überschreitet, die die ganze Welt von Jasnaja Poljana trennt, der taucht sogleich ein in die besondere Atmosphäre, die den Künstler Leo Tolstoj so viele Jahre nährte.

11:53       Zwei phallische Türmchen stehen am Eingang zum Gut. Dahinter ist noch beinah alles so, wie es zu Tolstojs Tagen war.

12:04       Die Birkenallee begrüßt den Besucher, wenn er ein Leser ist, wie ein alte Bekannte: sie spielt ein Rolle im Roman Krieg und Frieden. Preschpekt nannten die Bauern sie auf Jasnaja Poljana, und so heißt sie auch im Roman, auf dem Gut „Kahle Berge“ des Fürsten Bolkonski.

12:27       Links von ihr liegt der größte der drei Seen, an seinem Ufer das Dorf, das denselben Namen trägt wie das Gut, zu dem es gehört, „Jasnaja Poljana“.

12:38       Dieses Gebäude, ein kleines Schlößchen eigentlich, heißt „Wolkonski-Haus“, hier befindet sich heute, wie auch damals, die Gutsverwaltung.

12:54       Ihm gegenüber liegen die Stallungen.

13:04       In einiger Entfernung und beinah ein wenig versteckt, das Gutshaus selbst mit seiner berühmten Veranda. Man kann es besichtigen, alles darin ist noch so wie in den letzten Jahren Tolstojs.

13:18       Hundert Schritte westlich davon das „Kusmin-Haus“, in dem Tolstoj seine Schule für die Dorfkinder eingerichtet hatte. Einen der drei Lehrer hatte er kurzerhand aus Jena mitgebracht. Heute befindet sich hier Irina Truchatschewas kleines Museum.

13:35       Geht man weiter in den Park hinein, führt ein Weg zu Tolstojs Grab. Kein Kreuz, denn er stand unter dem Anathema, dem Bannfluch der Kirche. Tausende trugen ihn zu Grabe, aber kein Priester war unter ihnen.

13:52       Ein anderer Weg – da geht man schon ein paar Minuten – führt zu seinem, wie es heißt, Lieblingsplatz. Auf dieser Bank, die regelmäßig erneuert wird, habe er gern gesessen und geschrieben.

14:08       Wer noch weiter geht, läßt den Wald hinter sich und kommt an ein Flüßchen. Man überquert es auf hölzerner Brücke und tritt hinaus in weites Land. Auch das, so weit man sehen kann, gehört zum Park von Jasnaja Poljana. Das war das Reich des jungen Grafen und angehenden Schriftstellers Leo Tolstoj.

14:38       Truchatschewa: Er hatte eine ungeheure Natur um sich herum, und es gab eine Bibliothek. Mehr braucht ein Junge nicht. Phantasien und Sujets schöpfte er aus Büchern, und alles gemeinsam schlug sich in den Vorstellungen nieder, die er entwickelte. Und dann gab es ja noch den großen Bruder, der eine unglaubliche Phantasie besaß. Der erzählte ihm die sonderbarsten Geschichten, und der Jüngere glaubte an die Geschichten. Er war fünf Jahre jünger und sagte „Sie“ zu seinem großen Bruder. Und dabei blieb es das ganze Leben. Was der ihm alles erzählte…

15:18       Nikolenka, der große Bruder, war an die Stelle der früh verstorbenen Eltern getreten.

15:24       L.N.: Meiner Mutter erinnere ich mich gar nicht. Ich war einundeinhalb Jahr alt, als sie starb. Durch einen seltsamen Zufall ist kein einziges Bild von ihr erhalten geblieben, so daß ich sie mir als reales körperliches Wesen nicht vorstellen kann.

15:43       Truchatschewa: Zum Beispiel gibt es den Berg der Aufschneider. Dort sind alle Menschen glücklich, aber es ist schwer hinzukommen. Man muß drei Bedingungen erfüllen: Auf einem Brett auf einem Bein stehen, nicht an den weißen Bären denken, ein Jahr lang keinen Hasen essen, weder gekocht, noch gebraten, noch gebacken – dann kommst du in das glückliche Land.
Doch das wichtigste Geheimnis…  ja und außerdem erzählte er von den Ameisenbrüdern. Sie schoben Sessel zusammen, deckten Tücher darüber und versteckten sich darunter. Dort spürten sie die Wärme ihrer Körper und stellten sich vor, alle Menschen seien Brüder. So wie sie. Sie ritten auf Stühlen nach Moskau – immerzu wollten sie reisen.
Das wichtigste Geheimnis aber war das vom grünen Stöcklein: Er sagte, dass er darauf all die wichtigsten Wörter geschrieben habe, wie man die Menschen glücklich macht. Was man tun muß, damit niemand krank wird, stirbt, damit niemand streitet, und alle einander liebhaben. Und das ist das wichtigste Geheimnis, Tolstoj hat sich sein ganzes Leben damit beschäftigt.

16:59       Andreas: Und wo ist das grüne Stöcklein?

17:02        Truchatschewa: Das hat bis heute niemand gefunden. Aber beerdigt ist Tolstoj genau an dem Ort, wo sie als Kinder „Grünes Stöcklein“ spielten.

17:16        Truchatschewa: Das ist ein symbolisches, ein philosophisches Bild, das grüne Stöcklein, und jeder von uns sucht es ja, wir suchen ja alle einen gewissen Inhalt, ein Ziel unseres Lebens. So suchte auch er. Aber für ihn war das Ziel die Bruderschaft aller Menschen. Und er schrieb im Alter: So wie ich damals daran glaubte, dass es das grüne Stöcklein wirklich gibt, so glaube ich es auch heute. Nur nicht unter vier Sesseln, sondern unter dem ganzen endlosen Firmament, für alle Menschen der Welt.

17:50        Und… ich zeige Ihnen jetzt eine Fotografie von Nikolaj Tolstoj, mit seinem Bruder Lew, vor ihrer gemeinsamen Reise in den Kaukasus, denn auch dorthin folgte Tolstoj seinem Bruder.

18:02       Truchatschewa: Das ist er, Nikolenka. Und das ist Lew.

18:15       Nikolenka starb 1860 in Frankreich an Schwindsucht, Lew empfand ein geradezu kindliches Entsetzen:

18:25       L.N.: Tag um Tag, Nacht um Nacht wird vergehen und mich dem Tode näherbringen. Dies allein sehe ich, denn dies allein ist wahr. Alles andere ist unwahr.

18:40       Andreas: Wie sind Sie mit Lew Tolstoj verwandt?

18:43       Tolstoj: Lew Nikoláewitsch ist der Großvater meines Großvaters. Ich bin der Ururenkel von Lew Tolstoj.

18:50       Andreas: Wenn ich es richtig verstehe, sind Sie nicht der einzige Nachfahre.

18:53       Tolstoj: Nun, Lew Nikolaewitsch und Sofja Andréewna hatten eine große Familie, dreizehn Kinder, und heute gibt es in der Welt mehr als 300 Nachfahren.

19:02       Andreas: Kommen die manchmal her?

19:05       Tolstoj: Nicht nur manchmal, sondern oft. Immer im August jedes Jahres mit gerader Zahl. Auch dieses Jahr erwarten wir die große Familie.

19:13       Andreas: Wie viele Gäste werden Sie dann hier haben?

19:15       Tolstoj: An die 150 Leute.

19:21       Andreas: Ein großes Familienfest…

19:23       Tolstoj: Ein riesiges Familientreffen. Wir verbringen dann eine Woche gemeinsam hier auf dem Gut und leben zusammen. So wie es hätte sein können, wenn alles so geblieben wäre wie früher.

19:44       Otroschenko: Ich würde Jasnaja Poljana einen Planeten auf dem Planeten nennen. Immer wenn ich herkomme, habe ich das Gefühl, als ginge ich irgendwie schräg, wie auf einem kleinen Planeten, einer Kugel, auf der ich immerzu mit einer Neigung gehe, entweder hierhin oder dorthin, und ich kann irgendwie die Horizontale nicht ausmachen.

20:18       Die Erde ist hier so seltsam beschaffen. Wenn man auf die Felder schaut, dieses hier zum Beispiel, es hat so einen Buckel. Wie ein kleiner Planet. Wohin du auch schaust, überall sind die Felder schief, überall gibt es Wölbungen, Neigungen, Gefälle. Mal geht das Feld gegen den Himmel, mal in die Tiefe… Mir scheint, die Landschaft ist hier auf besondere Weise eingerichtet. Und: Raum – hat für den Künstler sehr große Bedeutung.

21:27        Wer nach Tula fährt, läßt seinen Samowar daheim. Die Stadt rühmt sich ihrer Eisenwaren, vor allem Waffen. Ihrer speziellen Lebkuchen auch, ihrer besonders hübschen Mädchen und ihres besonders großen Dichters. Jasnaja Poljana liegt nur ein paar Kilometer außerhalb.

21:47        Andreas: Tatjana, waren Sie schonmal in Tula?

21:49       Tolstaja: Zum ersten Mal.

21:50       Andreas: Also auch noch nie in Jasnaja Poljana?

21:53       Tolstaja: Zum ersten Mal, auch in Jasnaja Poljana.

22:24       Andreas: Dort sieht man bereits sein Denkmal. So ein riesiges sowjetisches.

22:32       Tolstaja: Ja. Diese Denkmale… warum sind sie so riesig? Weil es ein Gesetz gab, oder eher eine Regelung unter der Sowjetmacht, daß für Denkmale ab einer Größe von drei Metern eine besondere Menge Geld floß.  Sie haben dieses Scheusal darum hingestellt, weil sie viel dafür bekamen, nicht weil es schön wäre oder den Ort verschönerte. Sehen Sie sich das an: ein scheußliches Denkmal auf einem scheußlichen Platz. Die Größe des Schriftstellers bringt das nicht zum Ausdruck.

23:06       Wäre es umgekehrt gewesen, je kleiner, um so mehr Geld, welch wunderbare Denkmale wir dann hätten! Und nicht so was, wo Bart und Hose ineinander übergehen.

23:17       Im ehemaligen Klassenzimmer im Kusmin-Haus.

23:25       Truchatschewa: So Kinder, ich sehe, Ihr versammelt euch schon, kommt mal alle her! Seht euch mal dieses Schulbuch an, es hat mit Euren Büchern keine Ähnlichkeit, stimmt´s? – Na der Winkelmesser sowieso, riesig wie er ist, den kann man ja kaum wegtragen – aber das Rechenbuch selbst, ist es besser oder schlechter als Euer Rechenbuch?

24:01        Truchatschewa: Hier hatten wir Tolstoj als Lehrer, jetzt kommt Tolstoj als Schriftsteller. Er war ja Lehrer geworden, weil er wollte, daß alle seine Bücher lesen, nicht nur die Gebildeten und Reichen.

24:25       Tolstoj: Wenn du spazierengehst, kannst du den äußeren Weg nehmen oder den inneren.

24:35       Tolstoj: Zur Zeit von Fürst Wolkonski spielten im Zentrum am Abend Musikanten, ein kleines Hausorchester.

24:47        Tolstoj: Zum morgendlichen Tee bitte!

25:27      Tolstoj: Das ist mittlerweile völlig offensichtlich, dass Tolstoj populärer ist. Er hat die höheren Auflagen, er wird mehr gelesen, über ihn wird mehr gesprochen, er wird häufiger im Internet genannt.

25:44       Tolstoj: Guten Morgen, Kinder!

25:47       Otroschenko: Ihr habt euch aber feingemacht.

25:52       Bitov: Die Existenzialisten haben Dostojewski sehr hochgezogen, die Psychoanalyse und die Existenzialisten, und damals hatte Dostojewski mehr Gewicht weltweit…

26:03       Tolstoj: Ja, das stimmt

26:04       Bitov: Aber ich habe eine ganz einfache Entdeckung gemacht. Genauer gesagt, nicht ich, sondern meine Zunge. Man macht das ganz automatisch. Wenn man sagt – Tolstoj und Dostojewski, dann klingt es normal. Aber wenn man sagt: Dostojewski und Tolstoj, dann will einem die Zunge nicht gehorchen.  Dann ist es bereits ein Gegensatz.

26:27       Otroschenko: Wenn man sagt: Dostojewski und Tolstoj?

26:29       Bitow: Ja. Das ist dann schon ein Gegensatz. Tolstoj und Dostojewski hingegen hört sich normal an, das geht wie in einem Fluss.

26:37       Tolstoj:  Also diese Abfolge ist dann …

26:40       Bitow: … natürlicher. Wobei Dostojewski um sieben Jahre früher zur Welt kam.

26:44       Tolstaja: Kam auch eher heraus, 1881.

26:48       Bitow: Nein. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass der eine im Krieg gekämpft hatte und der andere im Gefängnis gewesen war. Tolstoj beneidete Dostojewski, als er die „Auferstehung“ schrieb, weil er nicht gesessen hatte, und Dostojewski steckte seine Nase andauernd in die Kriegspolitik…

27:07        Otroschenko: Ja!

27:08        Bitov: …weil er nie im Krieg gewesen war.

27:12        Tolstoj: Erstaunlich, dass sie sich nie begegnet sind.

27:16        Tolstaja: Zum Glück! Was wäre daraus bloß geworden. Da hätte man die Galle in Kübeln raustragen können, und zwar von beiden, die hätten sich völlig unnötigerweise mit ihrer Galle beschäftigt.

27:26        Otroschenko: Aber es hat Versuche gegeben…

27:28        Tolstoj: Strachow hat versucht…

27:29        Otroschenko: Strachow hat sich um ein Treffen bemüht …

27:31        Tolstoj: Und Alexandra Andrejewna auch.

27:33        Tolstaja: Da wäre nichts bei herausgekommen. Die hätten sich nicht unterhalten können. Jeder von ihnen war ein eigenes Universum.

27:39        Otroschenko: … oder es wäre ein sehr seltsames Gespräch dabei herausgekommen.

27:44        Tolstoj: Aber, Tolstoj und Tschechow, das ging gut …

27:46        Tolstaja: Das ist ganz was anderes.

28:12       Otroschenko: Wie viele Kinder hatte Tolstoj eigentlich, dreizehn, oder?

28:17       Tolstoj: Dreizehn von Sofja Andrejewna, sagen wir´s mal so.

28:21       Otroschenko: Und im Dorf, gab´s da auch Kinder?

28:26       Tolstoj: Nun, das bekannte Kind von Aksinja Basykina, Timofej…

28:31       Otroschenko: Der ist sozusagen unbestritten.

28:33       Tolstoj: Unbestritten.

28:34       Tolstaja: Hat er Nachfahren?

28:36       Tolstoj: Nein. Timofej hatte keine Kinder, wenn ich mich nicht irre. Aber es gibt sogar eine Geheimgesellschaft der unehelichen Kinder Tolstojs, Kinder des Leutnants Schmidt sozusagen…

28:56       Tolstoj: Und ich habe die unwahrscheinlichsten Leute getroffen. Eine Zeit lang fuhr ich regelmäßig ins Gefängnis. Weil ich von dort einen sehr rührenden Brief bekommen hatte, viele Seiten lang….

29:17       Otroschenko: Mit einer Anspielung, der Absender sei ein….

29:21       Tolstoj: Keine Anspielung, sondern er schrieb ganz offen: Meine Oma oder Uroma, die war schwanger von Lew Nikolajewitsch und wurde in ein anderes Dorf umgesiedelt. Dort lebte sie dann.

29:44       Andreas: In letzter Zeit wurde viel über Tolstojs Familienverhältnisse und sein Familiendrama gesprochen. War er in der Ehe ein unglücklicher Mensch?

29:56       Tolstoj: Ich würde das nicht so sagen. Erstens war die Ehe sehr lang, 48 Jahre. Darin gab es sehr viel Glück, besonders in den ersten Jahren. Und der mittlere Teil des Lebens. Natürlich, zum Lebensende hin hatte Tolstoj mehr Anlaß zu Verbitterung, Leid, Entrüstung, Aufregung. Aber dennoch, wenn man eine Bilanz zieht dieses Lebens, kann man ihn auf keinen Fall einen unglücklichen Menschen nennen. Auch in der Ehe nicht.

30:28       Andreas: In Novelle „Kreutzersonate“ wirft der Protagonist einen marmornen Briefbeschwerer nach seiner Frau. Und im Gegenroman von Sofija Andrejewna wirft er ebenfalls einen Briefbeschwerer. Und tötet sie.  Bereits Pierre  – „Krieg und Frieden“  – droht seiner Frau, nicht mit einem Briefbeschwerer, …

30:50       … das wäre zu wenig für den Riesen, sondern gleich mit einer marmornen Tischplatte …

30:55       Tolstoj: Und das war lange vor der „Kreutzersonate“!

30:59       Andreas: Ein Detektiv würde die Vermutung anstellen, dass dieser Briefbeschwerer auch im Leben geflogen ist.

31:04       Tolstoj: Dass er irgendwie im Unterbewusstsein war. Oder in der Wirklichkeit?

31:11       Andreas: In der Realität.

31:14       Tolstoj: Natürlich gab es emotional aufgeladene Szenen zwischen den Eheleuten. Ich habe keinen Beleg dafür, dass schwere Gegenstände durch die Zimmer geflogen sind. Aber schwerwiegende Worte, Worte, die vielleicht genauso verletzend waren wie ein Briefbeschwerer, sind geflogen. Emotional wurden manchmal Dinge gesagt, die schwerer wogen als ein Briefbeschwerer.

32:00       L.N.: …wenn jemand Anlaß hätte ins Wasser zu gehen, so wäre es keinesfalls sie, sondern ich… Ich wünsche nur eines: Freiheit von ihr, von dieser Lüge, Verstellung und Bosheit, von der ihr ganzes Leben durchdrungen ist… Alles, was sie mir angetan hat, zeugt nicht von Liebe, sondern scheint den offenkundigen Zweck zu haben, mich umzubringen…

32:28       Andreas: Dieses Gespräch über Tolstoj und Sofija Andrejewna, ist es wichtig oder entscheidend?

32:35       Prilepin: Für den Schriftsteller Tolstoj nicht und auch für mein Verständnis von ihm ist es wohl nicht ausschlaggebend. Man könnte fast denken, Tolstoj sei durch seine Ehe berühmt geworden und nicht durch seine Romane. Und das stimmt ja nicht. Tolstoj ist nicht durch die Ehe Schriftsteller geworden.

32:56       Andreas: Sondern?

32:58       Prilepin: Was?

33:00       Andreas: Wodurch wurde er Schriftsteller?

33:03       Prilepin: Durch den Krieg wahrscheinlich.

33:06       Prilepin: Ja.

32:10       Prilepin: Unter anderem. 

33:16       Prilepin: Unter anderem durch den Krieg.

33:27       Andreas: Und du selbst, was hat Dich zum Schriftsteller gemacht?

33:35       Prilepin: Die Luft meiner Kindheit und der Krieg. Aus diesen beiden Dingen entsteht Literatur. Meine.

33:46       Andreas: Was verbindet deine Arbeit mit dem Werk Tolstojs?

33:50       Prilepin: Nein, das ist dumm, dieses Thema zu erörtern, ich sage das ohne falsche Koketterie, für mich ist Tolstoj zweifellos ein Gigant, und was könnte eine Pyramide und einen kleinen Schatten schon verbinden? Ich kann nur mit tiefer Verneigung und mit geheimen Schrecken vermuten, dass es Dinge gab, die Tolstoj zur literarischen Arbeit gebracht haben, die auch für mich eine Rolle spielten. Aber das ist nur ein Zufall.

34:32       Andreas: Sprichst du vom Krieg?

34:35       Prilepin: Ich spreche von… Ein russischer Schriftsteller hat gesagt, dass die Luft der Kindheit beim Bau der ersten schriftstellerischen Dinge verbraucht wird. Die Luft der Kindheit. Und bekanntlich hat Tolstoj mit der Erzählung „Kindheit“ begonnen. Später diente er dann bei militärischen Einsätzen im Kaukasus und in Sewastopol. Das war wie ein Pendel, seine Kindheit war vielleicht gar nicht unbedingt so glücklich, aber dennoch spiegelt sich in seiner Erzählung „Kindheit“  das absolute Glück, das Kinderglück, und das Pendel schwang dann hinüber in die absolute Hölle von Sewastopol. Aus dieser Pendelbewegung zwischen Glück und Hölle wurde der Schriftsteller geboren, wenn du aus einem Zustand in einen völlig gegensätzlichen geworfen wirst.

35:29       Krieg und Schreiben. Im Krieg war Tolstoj Schriftsteller geworden. Aus dem Kaukasus hatte er seine erste Erzählung, „Kindheit“ an einen Verleger geschickt. 1854/55 nahm er am Krimkrieg teil und erlebte die Verteidigung und den Fall Sewastopols an vorderster Front. Der Krimkrieg ist der erste in Fotografien dokumentierte Krieg der Geschichte. Der Engländer Roger Fenton ist der erste Kriegsfotograf. Die frühen Fotos, sagt man, haben das Bild vom Krieg in der Öffentlichkeit grundlegend verändert und ihm seine Aura von Abenteuer und Größe genommen. Eine mit Kanonenkugeln übersäte Straße im „Tal der Schatten des Todes“. Das Bild des Krieges verändert haben auch die Berichte des Unterleutnants Graf Tolstoj. Seine „Sewastopol-Erzählungen“ machten ihn berühmt. Aus einem Brief Tolstojs an seinen Bruder Sergej:

36:36       L. N.: Ich bin noch kein einziges Mal im Kampf gewesen, aber ich danke Gott, daß ich diese Menschen gesehen habe. (…) Man muß die gefangenen Franzosen und Engländer sehen, besonders die letzteren: das sind ausgesuchte Prachtkerle, moralisch sowohl als physisch. Die Kosaken sagen, es täte ihnen sogar leid, diese Leute zu töten.

36:59       Prilepin: Bei Tolstoj ist das völlig klar, hätte er nicht den Kaukasus und Sewastopol erlebt, dann hätte es „Krieg und Frieden“ nicht gegeben, denn das, was er dort mit eigenen Augen gesehen hat, das sind seine Vorstellungen von menschlicher Tapferkeit, vom Tod, davon, wie sich ein Mensch an dieser Grenzlinie bewegt. Das sah er und begriff es, als er selbst auf dieser Grenzlinie stand. Da lag der Ursprung seiner Schriftstellerei, in der Empfindung eines Menschen in einer Extremsituation, wo er jeden Moment fallen und verschwinden kann. Tolstoj mit seinem sehr schwierigen Verhältnis zum Tod, er war aus Sewastopol nach Moskau mit dem Ruf eines sehr mutigen Offiziers gekommen. Er war ein tadellos mutiger und willensstarker Mensch, auch in seiner weiteren Biografie und in seiner Duellgeschichte, an die er sich dann sehr viel später erinnerte. „Was für Sünden ich in meinem Leben begangen habe, ich habe Menschen im Krieg getötet, ich habe andere zum Duell herausgefordert, um sie zu töten.“ Dafür geißelte er sich. Und es waren ja auch wirklich schreckliche Taten, wie wird man das da oben sehen? Aber er geißelte sich, und das machte ihn zu dem, der er war. Ich bin mir nicht sicher, ob er der, wie ich finde, größte Schriftsteller der Welt geworden wäre ohne diese albtraumhaften Situationen, ohne diese Sünden – wobei ich nicht weiß, ob es eine Sünde ist, wenn man im Krieg jemanden umbringt – aber ohne dieses seelische Grauen, das er erlebt hatte.

38:46       Unterleutnant Tolstoj im Kreis von Schriftstellerkollegen. Sein Erfolg stand außer Zweifel. Doch er hatte bereits erkannt, dass nicht die Literatur seine eigentliche Aufgabe sei, sondern nichts weniger als die Gründung einer neuen Religion.

39:01       L.N. …einer praktischen Religion, die keine künftige Seligkeit verheißt, aber die Seligkeit auf Erden verleiht.

39:22       Andreas: Tatjana, sind Sie auch mit Leo Tolstoj verwandt?

39:31       Tolstaja: Wir sind ein jüngerer Nebenzweig, sozusagen, von Pjotr Andrejewitsch Tolstoj.  Lew Nikolajewitsch ist unser berühmter Verwandter. Und wir sind die kleinen Verwandten.

39:46       Andreas: Ach wieso? Sie haben doch auch einen berühmten Großvater!

39:50       Tolstaja: Na nicht in diesem Maße, das kann man nicht vergleichen. Lew Nikolajewitsch ist so berühmt, so groß, dass sich jeder neben ihm nur klein vorkommen kann.

40:00       Alexej Tolstoj, 1882 – 1945, russischer Schriftsteller, nach dem Tode Gorkis (1936) Vorsitzender des sowjetischen Schriftstellerverbands.

40:15       Andreas: Der Gedanke daß Leo Tolstoj der Vorläufer Lenins gewesen sei…

40:20       Tolstaja: Er war kein Vorläufer Lenins.

40:22       Andreas: Er stammt nicht von mir…

40:24       Tolstaja: Ich verstehe, aber selbst wenn er von Ihnen stammte…. Nein, er war kein Vorgänger Lenins, gar nicht.

40:32       Andreas: War er ein Revolutionär?

40:36       Tolstaja: Er war ein Dissident, nennen wir es so. Und zwar ein Dissident einer besonderen Art: Ihm war die ganze Welt nicht recht. Nichts in dieser Welt ließ er gelten. Er war eins von diesen gigantischen Loch-Ness-Ungeheuern. Er war an die Oberfläche gekommen und war gegen alles. Solche gab es vielleicht mal vor Millionen  Jahren, jetzt sind sie ausgestorben. Ihm passte gar nichts, ihm missfiel die Gesellschaft, die Situation der Frau in der Gesellschaft, das Verhältnis der Frau zum Mann, das Verhältnis des Mannes zur Frau, ihm missfiel, dass der Mann ein Mann ist, ihm missfiel, dass der Mann sich zur Frau hingezogen fühlt, und er wollte sich dafür vernichten, ihm schien, das schändlich, elendig und furchtbar. Das ganze sexuelle Leben, nicht nur der anderen, sondern vor allem sein eigenes, gefiel ihm ganz und gar nicht, und er wollte, dass es das nicht gäbe.  Er wollte, dass die Lebewesen anders eingerichtet wären, dass sie nicht kopulieren und sich vermehren müssen. Seine Proteste dagegen, wie Gott diese Welt eingerichtet hat, gingen zuweilen so weit, dass er meinte, es sei besser, wenn es diese Welt überhaupt nicht gäbe.

41:52       Tolstaja: Er war gegen die Welt. Aber er hätte sie nicht blödsinnig zerstört, wie der von Ihnen erwähnte Lenin. Lenin war ein widerliches, bösartiges Wesen, das sich nur eine Aufgabe gestellt hatte – alles zu zerstören, alles rächen. Sei es den Tod seines Bruders, sei es, dass er kleinwüchsig und glatzköpfig war und einen Sprachfehler hatte, er war ein kleines, bösartiges Miststück – ein schlechter Journalist – und alles, was er im Leben tat, war Zerstörung. Er hat zerstört, was unter Mühen geboren und geschaffen worden war. Lew Nikolajewitsch aber hat immer nur geschaffen, geschaffen und geschaffen. Wenn er etwas zerstörte, dann sich selbst, wenn er etwas verurteilte, dann sich selbst. Und während er sich selbst bestrafte, nahm er den Menschen natürlich eine Menge Dinge, er nahm ihnen die Bücher, die er nicht schrieb. Stattdessen war er demütig und bescheiden und fertigte den Bauern Stiefel. Die Stiefel gerieten schlecht, sehr schlecht, die Bücher hingegen wären hervorragend geraten. Dieser Mann, wenn der etwas machte, dann in großem Stil. Er versuchte, den Künstler in sich zu töten, aber er schaffte es nicht ganz, er war nicht tot.

43:03       Je älter Tolstoj wurde, um so mehr misstraute er der literarischen Arbeit, um so karger wurde er.

43:10       L.N.: Kunst ist Lüge, und ich kann die schöne Lüge nicht mehr lieben.

43:15       „Krieg und Frieden“ in der sowjetischen Massenauflage. Aus seinem späteren Werk ragt düster die „Kreutzersonate“ heraus, der Monolog eines Mannes, der seine Frau ermordet hat. Die aufs Dürftigste reduzierte Rahmenhandlung – eine Zugfahrt. Immerzu Züge. Nicht den Mörder trifft die Schuld, sondern seine Frau. Das Weib. Dieses Weib war für alle Welt zu erkennen, Sofja Andrejewna, Tolstojs Gattin. Man glaubt kaum, daß beide Bücher aus derselben Feder stammen.

43:52       Tolstaja: Durch den einen Text hindurch können sie den anderen lesen. Das heißt, wenn Sie nichts wissen, und „Krieg und Frieden“ lesen wollen, dann werden Sie, wenn sie das Buch beim ersten Mal bezwingen können, was davon abhängt, wie Sie sich darauf vorbereitet haben, dann werden Sie nach der Lektüre etwas benommen und still sein, denn Sie haben sich in einem anderen Land aufgehalten. Sie wussten nicht, daß es dieses Land gibt, es ist weit weg – und lange her. Und sie haben es durchlaufen (und durchfahren), und nun sind all diese Personen für immer bei  Ihnen, Sie sind von ihnen umgeben. Sie können niemanden von ihnen mehr vergessen, Sie können nicht mehr von der Art des Denkens lassen. Sie sind bereits erobert. Wenn Sie gar nichts gelesen haben von Tolstoj und sich die „Kreutzersonate“ vornehmen, kann es passieren, dass Sie das Buch wütend wegwerfen. Nicht weil es schlecht geschrieben wäre, sondern damit es Sie nicht  belästigt, es ist wie ein lebendiges Wesen, Sie schmeißen es weg wie eine Schlange, es ist wie eine Kobra, kommt immer wieder angekrochen und will Ihnen Löcher ins Gehirn beißen. Ja, das sind verschiedene Teile ein und desselben Menschen. Wenn Sie beides gelesen haben, dann können sie sehen, wie das eine im anderen durchscheint, wie man das eine durch das andere liest. Dann können Sie sich vorstellen, dass die „Kreutzersonate“ von dem Menschen geschrieben wurde, der diese wundervollen Welten in „Krieg und Frieden“ geschaffen hat. Das können Sie.

45:39       Andreas: Ist Krieg und Frieden ein Familienroman?

45:42       Tolstoj: Für mich ja! Natürlich, denn im Mittelpunkt stehen zwei Familien, die Bolkonskis und die Rostows, das sind die Familien der Mutter und des Vaters von Lew Nikolajewitsch. Daher ist der Roman absolut eine Familiensaga. Er hat nicht einmal die Vornamen verändert, nur jeweils einen Buchstaben im Familiennamen.

46:06      Der alte Fürst Bolkonski, Nikolaj Sergejewitsch Bolkonski, ist sein Großvater mütterlicherseits, Fürst Nikolaj Sergejewitsch Wolkonski. Und Graf Ilja Andrejewitsch Rostow ist sein Großvater väterlicherseits – Graf Ilja Andrejewitsch Tolstoj.

46:28       Auch die Ähnlichkeit der Familiennamen zeigt, dass Lew Nikolajewitsch nicht verbergen wollte, dass seine Großväter die Prototypen seiner Protagonisten waren. Genauso, wie Fürstin Mar‘ja Tolstojs Mutter ist – Mar‘ja Nikoláewna, und als Prototyp für Nikolaj Rostów sein Vater Nikolaj Iljitsch Tolstoj diente. Absolut eine Familiensaga.

46:55       Die Angehörigen waren drauf und dran, in den Roman wie in eine vor dem Haus wartende Kutsche einzusteigen, schrieb der scharfsinnige Viktor Schklowski, einer der großen Literaturwissenschaftler.

47:07        Krieg und Frieden ist das große Sittengemälde, in dem das ganze Land sich erkannte. Erste Verfilmung 1915, die letzte 2007. Dazwischen Sergej Bondartschuks Mammutwerk von 1967.

47:29        Der Film folgt dem Buch sehr treu, daher auch seine enorme Länge von beinahe 7 Stunden. Napoleons Angriff auf Russland, seine Siege und seine endgültige Niederlage.

47:46        Und vor dem Hintergrund des Krieges die emblematischen Situationen aus dem Leben des russischen Adels: Höfische Gesellschaft,

48:00       wüste Gelage,

48:10       das Duell,

48:25       glänzende Feste,

48:31       die Jagd.

48:36       Eine Szene, die ohne Pulverdampf und Massen von Statisten auskommt, hatte die stärkste Wirkung: Nataschas Tanz. Wer Natascha Rostowa nicht kennt, kennt Rußland nicht. Das kleine Komteßchen, französisch erzogen, und dennoch beherrscht sie den russischen Tanz, den man gar nicht erlernen kann. Zahllose Mädchen in Rußland ahmen bis auf den heutigen Tag Natascha nach; sie ist zu einer allgegenwärtigen Figur geworden. Wem aber war sie selbst nachempfunden, sie und die anderen Helden des Romans? Irina Truchatschewa meint nicht, daß es sich bei Krieg und Frieden um die Saga der Familie Tolstoj handelt.

49:21       Truchatschewa: Tolstoj schrieb in dem Entwurf zu einem Vorwort, daß es sich bei den Figuren des Romans um historische und halbhistorische Personen handelt…

49:30       Historisch: Napoleon, Zar Alexander I., die Generäle Kutusow, Bagration.

49:42       Truchatschewa: Unter halbhistorischen Figuren verstand er eine Gruppe von sehr bekannten Protagonisten, von denen einige leicht zu entschlüsseln sind. Wassili Denissow ist Denis Wassiljewitsch Dawydow, der Held des Partisanenkrieges von 1812.

50:00       Fjodor Dolochow – Fjodor Tolstoj, der sogenannte Amerikaner, Onkel zweiten Grades von Tolstoj. Das war eine berüchtigte Persönlichkeit, er wurde mehrfach von Schriftstellern beschrieben, weil seine Biografie schon ein Roman für sich war. Elf Gegner beim Duell getötet, Held in der Schlacht von Borodino, schwer verletzt  im Kampf gegen die Franzosen – der drängte einfach in den Roman.

50:24       Fedor Dolochow im Film. Ihm gehört die einprägsame Szene vom Saufen auf dem Fensterbrett. Alles spricht dafür, daß Tolstoj sie nicht erfunden hat.

50:45       Fedor Dolochow, wie auch Fedor Tolstoj, fehlte anscheinend das Gen der Angst. Er war vollkommen furchtlos. Aber auch mitleidlos, ja herzlos.

51:02       Und am Ende glücklos.

51:16        Fedor Tolstoj in einer Federzeichnung Alexander Puschkins, der sich fast einmal mit ihm duelliert hätte und ihm später eine Rolle in seinem Eugen Onegin gab.

51:32       Truchatschewa: Diese Menschen waren miteinander verbunden, das war ein bestimmter Kreis. Und wenn man anfängt, die anderen Protagonisten zu entschlüsseln, dann ist es wie das Lösen einer Rechenaufgabe. Am Anfang stand nur ein Faktum. Ich erfuhr, dass Fürst Petr Wjasemski, ein enger Freund von Fjodor Tolstoj und Denis Dawydow, in Zivil an der Schlacht von Borodino teilgenommen hatte.

52:22       Truchatschewa: Danach wollte ich mir sein Äußeres einmal genauer und aufmerksamer ansehen. Wir fanden ein Porträt von Pjotr Wjasemski und verglichen es mit der ersten Illustration zu „Krieg und Frieden“, die noch unter Anweisung von Lew Tolstoj angefertigt wurde. Da stellte sich heraus, dass es ein und dasselbe Gesicht war. Und nicht nur das Gesicht, sondern auch sein Anzug, dieselben Details bei der Kleidung. Die Illustration war also buchstäblich vom Wjasemski-Porträt abgemalt worden.

53:02       Bleibt noch der letzte, der geheimnisvollste, der erstaunlichste Protagonist des Romans – das ist Fürst Andrej, ein Held, der bei Tolstoj unbedingt sterben musste, das hatte er sich von Anfang an so ausgedacht. Er wollte anfangs, dass Andrej in der von Schlacht von Austerlitz fällt. Aber dann hat er ihn bewahrt und ihm das Leben verlängert.

53:43       Truchatschewa: Wer also ist er. Er muss in Verbindung stehen mit allen anderen. Er kommt ums Leben. Da gibt es nur einen in der russischen Geschichte heraus, der Fürst Andrej gleichkommt, der ihm ebenbürtig ist an Verstand und an Taten – das ist Alexander Sergejewitsch Puschkin.

54:01       Alexander Puschkin, Russlands großer Dichter, hier in einer seiner Zeichnungen. Puschkin wurde 1837 im Duell getötet.

54:14       Truchatschewa: Einen anderen gibt es nicht in der von Tolstoj beschriebenen Epoche, der diesen Platz einnehmen könnte. Fürst Andrej, seine Braut, alles, was mit der Braut geschah und sogar die Umstände der Bekanntschaft mit ihr beim Ball, der erste Ball von Natascha, auf dem Fürst Andrej sie zum ersten Mal sieht und sie sich als seine zukünftige Frau vorstellt – das sind alles Züge aus der Biografie von Alexander Puschkin. Es handelt sich also um die herausragendsten und glänzendsten Vertreter der Epoche. Anders konnte es auch gar nicht sein.

55:02       Truchatschewa: Damit bleibt nur noch die Frage, wer Natascha war, die bezaubernde weibliche Hauptfigur des Romans. Tolstojs Schwägerin glaubte bis an ihr Lebensende, sie selbst sei Natascha Rostowa, aber schon wenn man nach dem Äußeren urteilt, kommt man, zu einem anderen Schluß: Dass sich hier ein bezauberndes Wesen verbarg, eine Herzensbrecherin mit zahllosen Verehrern. Und so sind auch alle Helden des Romans in Natascha verliebt, jeder dieser vier liebte sie auf seine Weise. Man darf daher vermuten, daß hinter Natascha Rostowa Natascha Gontscharowa steht, der „Stern des Nordens“, Puschkins Gattin, die eine so tragische Rolle in seinem Leben spielte und eine glänzende Spur in unserer Kultur und Literatur hinterlassen hat.

56:36       Kaum 50 km südlich von Jasnaja Poljana, aber irgendwie schon in einer anderen Welt, weites Land, liegt Pirogowo, dessen kleines Gutshaus Tolstojs älterer Bruder Sergej bewohnte. Tolstoj war gern hier und schrieb hier seine Novelle Hadschi Murat.

56:54       Den Helden dieser Erzählung gab es wirklich. Hadschi Murat war ein tschetschenischer Krieger, der zu den Russen überlief und von ihnen umgebracht wurde. Eine wahre Geschichte aus dem Tschetschenienkrieg. Dem vor anderthalb Jahrhunderten.
Die Erzählung erschien erst nach dem Tode Tolstojs, beinah gleichzeitig übrigens in deutscher Übersetzung.

57:21        Andrej Bitov hält sie für Tolstojs letztes Werk und möchte ihr ein Denkmal setzen.

                 Das heißt, eigentlich der Distel, mit welcher die Erzählung beginnt:

57:41        Tolstoj: Ich ging quer über die Felder nach Hause. Es war mitten im Hochsommer. Das Heu war bereits abgeerntet, man ging daran, den Roggen zu mähen.
Ich hatte einen großen Strauß verschiedener Blumen gesammelt, als ich im Graben eine prächtige himbeerfarbene, in voller Blüte stehende Distel erblickte, von der Art, die man bei uns Tatarendistel nennt, und beim Mähen vorsichtig umgeht (; falls sie jedoch zufällig von der Sense getroffen wird, sorgfältig aus dem Heu ausliest. Ich wollte diese Distel pflücken und mitten in meinen Strauß setzen). Ich stieg in den Graben hinab, vertrieb eine pelzige Hummel, die sich an der Blüte festgesogen hatte und darin süß und sanft eingeschlummert war, und machte mich daran, die Blüte zu pflücken. Das war jedoch keineswegs leicht, nicht nur daß der stachlige Stengel, selbst nachdem ich meine Hand mit dem Taschentuch umwickelt hatte, nach meinen Fingern stach: er war auch so widerstandsfähig und fest, daß ich wohl fünf Minuten lang förmlich mit ihm kämpfte und jede Faser einzeln durchreißen mußte. Als ich die Blume endlich gepflückt hatte, war der Stengel schon ganz zerfetzt und zerfasert, und auch die Blüte selbst schien nicht mehr so frisch und schön. Überdies passte sie mit ihrer plumpen, groben Form nicht recht unter die übrigen zarten Blüten des Straußes. Ich bedauerte, die Blume, die an ihrem Platze recht schön gewesen war, unnützerweise abgerissen zu haben und warf sie fort. „Welche Energie, welche Lebenskraft steckte in dieser Blume!“, dachte ich, „Wie verzweifelt hat sie sich gewehrt, wie teuer ihr Leben verkauft!“
Und ich erinnerte mich einer kaukasischen Geschichte aus längst vergangener Zeit, die ich zum Teil erlebt hatte, zum Teil von Augenzeugen gehört hatte, und mir zum Teil erdachte. Die Geschichte, wie sie sich aus meiner Erinnerung und Phantasie gestaltet hat, ist folgende:

59:48       Bitow: Wie er schrieb, er konnte es, ein beeindruckender Text. Du verstehst, warum ich so aufdringlich bin mit dieser Idee, dass diese Distel zum Denkmal für sein letztes Werk werden soll, hier ist es, das letzte Werk, und es wächst  hier…überall, überall. Es passt zum hundertjährigen Jubiläum, nur hundert Jahre sind vergangen. Wir begehen das Jahrhundert, das … Wie Wladimir Sokolow geschrieben hat:

11:00:39  Ich bin müde von diesem Jahrhundert,
Seiner blutigen Flüsse erschöpft,
Ich verzichte auf  die Menschenrechte,
Denn ich bin ja schon lang nicht mehr Mensch.

00:51       Tolstoj dagegen war Mensch bis an sein Ende. Und sein Weggehen war nicht schwächer als das von Hadschi Murat, er war selbst eine ziemlich stachlige Distel, er ging wie ein Tier. Meiner Meinung nach wusste er, dass er für immer geht. Und solch ein Weggehen schaffen nur starke Tiere. Tolstoj hatte eine starke Natur, mit seinen Mühlsteinen aus Geist und Körper hat er so viel gemahlen, dass er tatsächlich ein Beispiel war für die ganze Menschheit:

01:36       Wie mächtig die Mühlsteine sein können.

02:10       Der russische Bauer. Das große politische Ereignis, das in Tolstojs Epoche fiel, war die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861. Die Frage der Leibeigenschaft, das heißt ihrer Überwindung, hielt das Land für Jahrzehnte in Bann und durchzieht auch die Literatur jener Zeit, nicht nur die Tolstojs. Zu seinen frühen Werken gehört „Der Morgen des Gutsbesitzers“, beileibe nicht die ländliche Idylle, die man erwarten möchte, sondern eine schonungslose Analyse. Der Sklavenhalter möchte sich von seinen Sklaven befreien, scheitert jedoch an deren Misstrauen, Faulheit und Niedertracht. Gutsbesitzer Nechljudow den Tolstoj hier schildert, das ist er selbst, wie sein Werk überhaupt bislang autobiographisch ist.

03:08       Farbfotos vom Beginn des 20. Jahrhunderts. 1908 war der Fotograf Sergej Prokudin-Gorsky, ein Pionier der Farbfotografie, in Jasnaja Poljana. Dort nahm er das erste farbige Fotoportrait Russlands auf: Leo Tolstoj zum 80. Geburtstag. Dem Jubilar waren die Ehrungen, mit denen er bedacht wurde, unheimlich:

03:45       L.N.: Immer mehr schäme ich mich meiner Lage und des ganzen Wahnsinns der Welt. Ist es wirklich nur ein Betrug meiner Sinne und meines Denkens, dass es so nicht fortgehen kann?

04:05       Otroschenko: Versuche des Gutsbesitzers, Neuerungen einzuführen, den Bauern das Leben zu erleichtern, wurden oft  mit Unverständnis und Gespött aufgenommen. Solche Herren wurden als Wunderlinge angesehen – zumindest – auf Russisch gibt es ganz andere Vokabeln dafür. Der kann nicht ganz dicht sein, wenn er irgendwelche seltsamen Dinge tut, wenn er sagt, gebt mir den Pflug, ich werde mit euch zusammen pflügen. … Sie waren sogar beleidigt, es war ihnen peinlich, sie sagten, hier, der Nachbar hat einen normalen Gutsherren, der ist streng und faulenzt, er reitet, trinkt. Champagner, Frauen, Kartenspiel, Pferde: das ist ein normaler Gutsherr. Aber ein Gutsherr, der plötzlich versucht, etwas mehr Güte in das Bauernleben zu bringen, bei dem hatten die Bauern das Gefühl, er sei ein Narr – unser Gutsherr ist nicht normal – und dann waren sie beleidigt. Es gibt eine wunderbare Szene im Roman „Auferstehung“, wo Nechljudow die in der Jugend von ihm verführte Katjuscha im Gefängnis besucht und ihr Geld geben und helfen will. Katjuscha sagt: Du hast mich hier auf der Erde benutzt, und nun willst Du Dich auch noch mit dem Himmel gut stellen, deswegen machst Du das alles. Woher hatte Tolstoj wohl diese Szene? Seine Bauern haben ihn das fühlen lassen. Das hat er sich nicht aus den Fingern gesogen. Das sind ganz reale Dinge.

05:48       Mädchen. Jungen – ein russisches Dorf am Abend. Hier leben heute keine Bauern mehr. Gibt es den russischen Bauern überhaupt noch? Von den heutigen Bewohnern Jasnaja Poljanas arbeiten viele – wenn sie nicht Wochenendler sind – für das Gut. Als Museumswärter etwa.

06:33       Am Nachmittag, wenn das Museum geschlossen und die Pforte gesperrt ist, nehmen die Dorfjungen das Gut ganz selbstverständlich in Besitz. Wie einst Nikolenka und Lew. Und was braucht ein Junge mehr als Natur und eine Bibliothek?

07:00        Aus dem kleinen Restaurant am Gutstor, das tagsüber Touristen bewirtet und am Abend eigentlich geschlossen ist, klingen Zigeunerlieder. Das ist die Musik der langen russischen Nächte, der ausschweifenden Gelage, Musik der Freiheit und Verführung. Tolstoj liebte sie, alle russischen Gutsherren liebten sie. Kein Bild des russischen Adligen ohne das der Zigeunerin!

08:51       Prilepin: Im Grunde hat der Literat zu allen Zeiten Antwort auf dieselben Fragen gesucht, die Empfindung eines Menschen in einer Extremsituation, die Kollision des Menschen mit seinen Sünden, die Überwindung der Sünde. Das taucht in Russland im 17. Jahrhundert auf und ist im 19. und 20. Jahrhundert da, und auch im 21. Der Mensch befindet sich in einer anderen Landschaft, er hat aber genau dieselben Probleme wie schon Anna Karenina oder Fürst Bolkonski. Die Fragen haben sich überhaupt nicht geändert, es sind dieselben Fragen und es gibt immer noch keine Antworten, auf jeden Fall sind die Antworten, die wir anzubieten haben, kein bisschen klüger oder tiefgehender als die von Tolstoj. Tolstoj wusste bereits alles, was mir in meinen sündigen Kopf kommen kann, und hat das alles auf höchstem psychologischen Niveau beschrieben. Und letztlich hat auch er keine Antworten gegeben, es gibt keine Antworten.

09:40       Andreas: Tolstoj hat keine Antworten gegeben?

09:44       Prilepin: Tolstoj… verstehen Sie, Tolstoj ist ja wie auch das Leben selbst ein kolossaler … ich weiß nicht … ein kolossaler Widerspruch… Mir fällt da grad so eine Geschichte ein, die hat Ihnen vielleicht Wlad Otroschenko schon erzählt. Tolstoj war schon ein alter Mann und in vielem sehr enttäuscht von der Menschheit und er lehnte alle möglichen menschlichen Vergnügungen ab, die Frauen und erst recht die Trinkerei und das Kartenspiel und all diese Schwächen, denen er sich in seiner Jugend hingegeben hatte. Das alles verachtete er. Und abends ging er immer spazieren an all diesen Orten, die wir gesehen haben, durch den Park, und war sehr traurig, er war betrübt, sah sich den Sonnenuntergang an und fragte sich, ob das alles wenigstens irgendeinen Sinn hat. Und meinte zu sich selbst: Ich weiß keine Antwort. Und dann wiederum kam er eines Tages ganz munter zurück vom Spaziergang, fröhlich, bester Laune, und Sofija Andrejewna fragt ihn: „Ljowuschka, was ist passiert?“ „Stell dir vor“, sagt er, „Da gehe ich übers Feld und mir kommen zwei Husaren entgegen, zwei Soldaten.“ Und sie sagt: „Ja und?“, Er antwortet: „Mit aufgerissenen Jacken, sie waren verschwitzt, betrunken, stanken nach Alkohol und Tabak und redeten über Weiber.“ Und sie: „Ja und?“ Und er „Was für Prachtkerle!“ In diesem Widerspruch steckt für mich der ganze Tolstoj, Tolstoj, der alle diese Laster verachtet, und plötzlich sieht er ihre Verkörperung in den beiden Husaren und sagt: „Prachtkerle!“.