Neues Bauen. Die Berliner Moderne, Kommentartext

Die meisten hier wundern sich: „Weltkulturerbe? Det is hier doch keen Weltkulturerbe. Sagen se det ma der Hausverwaltung!“ Na ja… Vielleicht muß mam zweimal hinsehen. Vielleicht muß man in die Vergangenheit sehen, um zu begreifen, was die Siedlungen der Berliner Moderne bedeuten. Grün. Gartenstadt. Als die Gartenstadt Falkenberg gebaut wurde, war es nicht selbstverständlich, daß Kinder Licht und Sonne sahen. Und Farben. Falkenberg entstand 1913, kurz vor dem 1. Weltkrieg, noch in der Kaiserzeit. In München malten damals Kandinsky und Franz Marc in leuchtenden Farben. In Berlin Kirchner und die Maler der „Brücke“. Der Architekt dieser Siedlung war ein Mann aus Königsberg. Von der Ostseeküste her kannte er bunte, kleine Fischerhäuschen. Er hieß Bruno Taut. Und „Tuschkastensiedlung“ war der Name, den der Volksmund der Gartenstadt bald gab. Der vielen bunten Häuschen wegen. Zu jedem gehörte ein Garten, der früher der Selbstversorgung diente. Nicht dort zu wohnen, wo man arbeitet, sondern im Grünen. An einem Ort der Familie und der Erholung. Das war die Idee. Eine Vorstadtsiedlung, seither tausendfach kopiert und variiert, nie mehr so schön.

Es verging einige Zeit, der Krieg ging vorüber, der Kaiser dankte ab, ehe Bruno Taut eine weitere Siedlung in Berlin baute. Diesmal städtisch, im Berliner Wedding. Hier zeigte er sich ganz anders: Roter Backstein, unverputzt, fremd eigentlich in Berlin. Ziegel, kombiniert mit jenem Baumaterial, das damals seinen Siegeszug um den Globus erst antrat: Stahlbeton. Taut’sche Farben ziehen sich ins Detail zurück. Taut war in Holland gewesen, von dort hatte er die Idee zur Gestaltung dieser Siedlung mitgebracht. Grundsteinlegung war 1924. Es sind nicht ihre architektonischen Neuerungen, die diesen Wohnhäusern ihren Rang geben. Es ist der sozialreformerische Gedanke. Hier wurde nicht um des Profits willen gebaut, nicht der Mieteinnahmen wegen.

Die Siedlung am Schillerpark ist, wie die anderen Welterbesiedlungen auch, ein Genossenschaftsprojekt. Hier baute die Weimarer Republik. Man kann das als Teil des großen sozialdemokratischen Projekts begreifen. Nicht mehr der Weg der Arbeiterklassen durch Verelendung zur Revolution, wie Marx es erwartet hatte, sondern stetige Verbesserung der Lebensumstände als Aufstieg zum Glück. Wenn es Abend wird, gehen nacheinander die Gaslaternen an und verbreiten ihr behagliches Licht. Ach, stünden sie doch auch unter dem Schutz der UNESCO! Nicht auszudenken, wenn sie irgendwann einer Öko-Überlegung zum Opfer fielen.

Auch dies ist Taut. Die Hufeisensiedlung. Er schuf sie gemeinsam mit Martin Wagner, der Sozialdemokrat war und ab 1926 Stadtbaurat. Im Zentrum der Großsiedlung – der ersten Großsiedlung in Deutschland, mehr als 1000 Wohneinheiten – umschließt ein hufeisenförmiges Gebäude eine Grünfläche mit Gärten und einem eiszeitlichen Pfuhl. Gleichheit, Gleichrangigkeit seiner Bewohner sollte das Hufeisen demonstrieren. Keine Vertikalen, keine hierarchischen Strukturen. Die Grünanlage – Taut nannte sie Außenwohnraum – hat der Gartenarchitekt Leberecht Migge geplant, der sich über den heutigen Zustand beklagen würde. Der Pfuhl lag damals frei, ohne wilden Randbewuchs, und gab mit seiner Form die Gestalt der ganzen Siedlung vor. Das war schön, aber heute ist das Biotop wichtiger als die Gestaltung, und die Frösche, wie Sie hören, schätzen den Tümpel sehr. Alle Gärten waren mit Kirschbäumen bepflanzt, die im Frühling blühten. Davon steht keiner mehr, stattdessen das, was jedem Gärtner gerade paßt. In den vom Hufeisen ausgehenden Straßenzügen dominieren wieder Taut’sche Farben. Aber: Ganze Straßenzüge sind jetzt monochrom rot, und das wirkt nicht mehr so gemütlich wie in der Tuschkastensiedlung. Sondern irgendwie manisch und – tja – politisch. Die Bauzeit war zwischen 1925-30, die Weimarer Demokratie geriet in Bedrängnis zwischen den Kommunisten und Hitler. Tauts Fassaden haben jetzt etwas Rohes, sie sprechen eher von Kampf als von Idylle. Die Häuserfronten mit ihren Fenstern ohne Läden wirken wie Gesichter ohne Augenbrauen. Eine „Rote Front“ – so nannte man sie wirklich – riegelt die Siedlung nach Osten ab. In unseren Tagen unglücklich restauriert – die Treppenhäuser waren ursprünglich in hellerem Rot – wirkt sie womöglich noch feindseliger als damals. Eine Architektur der Konfrontation. Hinter der martialischen Kulisse aber geht es fröhlich und harmonisch zu.

Die „Wohnstadt Carl Legien“ am Prenzlauer Berg, 1928-30, ist die letzte Taut’sche Siedlung im Welterbe-Ensemble. Und seine städtischste. Daß hier 1200 Bewohner auf eigentlich engem Raum leben, empfindet man nicht. Alle Wohnungen sind großzügigen und luftigen Innenhöfen zugekehrt. Die Erschließungsstraßen dagegen bescheiden, aber nicht abweisend.

Ganz dem Gestus der Epoche verpflichtet – die „Weiße Stadt“ in Berlin-Reinickendorf, 1929-31. Sie hat etwas Wahrzeichenhaftes, korrespondiert mit kühnen konstruktivistischen Entwürfen in der Sowjetunion, wo sich jedoch schon ein anderer, eher traditioneller, imperialer Baustil etablierte. Hier manifestiert sich der erwartete Triumph der Arbeiterklasse in einer neuen Bauästhetik. Über Taut, der hier nicht mehr beteiligt ist, geht die Architektur hinaus: Baumeister und Bewohner setzen sozusagen ein gemeinsames Zeichen. Gleichförmigkeit, Serie, Reihung – das war nötig, um die Kosten niedrig zu halten. Rentabilitätsberechnungen, Rationalisierung, Bauteile in Masse vorgefertigt. Heute wird alles in Masse hergestellt, damals aber hatte das Wort „Masse“ einen guten Klang. Ästhetisch ist die Weiße Stadt wohl nie übertroffen worden. Sie ist Symbol einer Epoche und dennoch zeitlos modern.

Eine durchgrünte Stadtlandschaft schwebte Hans Scharoun vor, dem Masterplaner der Ring-Siedlung Siemensstadt, ebenfalls 1929-31. „Panzerkreuzer“ nannten die Berliner dieses Haus von Scharoun. Sie dachten dabei wohl weniger an des Kaisers untergegangene Kriegsmarine als an den Revolutionsfilm „Panzerkreuzer Potemkin“, der in Deutschland großen Erfolg hatte. Siemensstadt wurde zu einem prägenden Vorbild im internationalen Städtebau der Nachkriegsjahre. Der „Lange Jammer“, eine über 300m lange, strenge Zeile von Otto Bartning. Nach außen hin kaum weniger karg: Die Häuser, mit denen Walter Gropius sich an der Ring-Siedlung beteiligte. Nach innen, zur Hofseite, große Grünflächen, alte Bäume, die sichere, unaufdringliche Eleganz des Bauhaus-Gründers.

Baugeschichtlich ist es von Siemensstadt nur ein kleiner Schritt zum sozialen Wohnungsbau der Nachkriegsjahre. Diese Trabantenstadt hier trägt nicht zufällig den Namen von Walter Gropius. Gropiusstadt, die legitime Nachfolgerin der Berliner Moderne – und ein sozialer Brennpunkt. So endet es. Und begonnen hatte es so.