Paestum und Velia. Was steht und nicht vergeht, Kommentartext von Andreas Christoph Schmidt

Wer nach Paestum reist, nach Süditalien, stellt sich nicht unbedingt auf schweren Regen ein. Goethe hatte bei seinem Besuch im März 1787 wohl keinen Regen. Er erwähnt das Wetter gar nicht. Furchtbar aber erschienen ihm die länglich-viereckigen Massen der Tempel auf den ersten Blick. „Der erste Eindruck konnte nur Erstaunen erregen. Ich befand mich in einer völlig fremden Welt.“ Dann begriff er: Er stand vor Bauwerken, die seine Auffassung des Schönen für immer veränderten. „In weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet, ja ich pries den Genius, daß er mich diese so wohlerhaltenen Reste mit Augen sehen ließ.“

Paestum, mit griechischem Namen Poseidonia, war eine, nicht die älteste, nicht die größte der griechischen Städte in Unteritalien. In Westgriechenland oder der Magna Graecia. Gegründet wurde sie von Siedlern aus Kleinasien um 600 vor Christus. Wer heute nach Paestum kommt, der ist nicht mehr ganz in Italien. Mit dem Herzen ist er in Griechenland. Die Tempelruinen von Paestum hatten viele dunkle Jahrhunderte in Kampanien verschlafen. Die Geschichte war an ihnen vorübergegangen. Zum Glück. Nicht lange vor Goethes Italienreise waren sie überhaupt erst wiederentdeckt worden. Erstaunlich, nicht? Man mußte sie nicht ausgraben, sie standen einfach da. Hinter einer fast fünf Kilometer langen, zyklopischen Mauer. Erst als man eine Straße durch die Kampagne baute, und die Tempel ihr im Weg standen, wurde man sich ihrer bewusst. Nun aber hob eine gesamteuropäische Begeisterung an. Jeder noble Engländer auf Grand Tour, all die beflissenen Deutschen auf Bildungsreise – sie machten unbedingt Station in Paestum, und hier lernten sie, was ein griechischer Tempel ist. Und als in der Mitte des 19. Jh Jacob Burckhardts Cicerone erschien, der tausendseitige Wegweiser zu allen damals bekannten Kunstdenkmälern Italiens, da stand auf Seite 1: „Welchem Gebäude hier die erste Stelle gebührt, darüber wird wohl kein Zweifel herrschen.“ Er meinte den größten der drei Tempel von Paestum, den man damals für einen Neptuntempel hielt und heute für einen Apollotempel.

Wer in Burckhardts Cicerone blättert und sieht, wie geizig er bei der Beschreibung von Kunstwerken ist, geradezu kränkend knapp, bloß kein Wort zuviel, der hat eine Ahnung, was ihm Paestum wert war, wenn er den Satz liest: „Was das Auge hier erblickt, sind eben keine bloßen Steine, sondern lebende Wesen.“ Im Angesicht des Tempels versteht man schnell, was Burckhardt meinte: Er scheint in einer Art von Bewegung zu sein. Goethe schreibt im Faust, lange nach Paestum: „Ich glaube fast, der ganze Tempel singt.“ Wir meinen heute zu wissen, wie die Griechen das erreicht haben. Am ganzen Gebäude gibt es keine gerade Linie, keine ebene Fläche. Was gerade scheint, ist in Wahrheit gewölbt. Und: Alles steht mit allem in Verbindung und Wechselwirkung.
Die Säulen sind bauchig, verjüngen sich nach oben, ihre Kannelierung, die senkrechten Rillen, verstärkt die Aufwärtsbewegung. Diese unbändige Erdkraft trifft auf einen würdigen Gegner: So stark ist das Gebälk, daß es die Säulenenden zu Wülsten auseinander drückt. Das dorische Kapitell. Die Einkerbungen erwecken den Eindruck, der Stein habe eine Haut, die sich hier fältelt, während das Innere zusammengepreßt wird. Was den Säulen an Kraft bleibt, nimmt der Giebel auf. Sein Winkel steht im Verhältnis mit der Wulst der Kapitelle, der Bauchung der Säulen, ihrer Dicke, ihrer Anzahl usw. Eine Veränderung irgendwo würde eine Veränderung überall nach sich ziehen. Das spürt jeder, und jeder sagt: Der Tempel lebt irgendwie.

Von Paestum geblieben sind großartige Ruinen. Aber wer hier baute und lebte, wissen wir nicht. Eine einzige Erwähnung, die eines Sportlers aus Poseidonia, der sich 468 vor Christus bei der Olympiade auszeichnete – sonst nichts. Er hieß übrigens Parmenides, und Parmenides war auch der Name des großen Sohns jener Stadt, die wir jetzt besuchen werden, kaum 50 km südlich von Paestum.

Ein Wanderer, der sich aus einem der cilentanischen Bergdörfchen Richtung Meer aufmacht und über die Hügelketten streift, könnte ganz unverhofft eine atemberaubende Entdeckung machen: Diese Ziegel, auf denen ich hier hin und wieder gehe – wo kommen die eigentlich her? Die hat doch niemand hingeschüttet! Diese Steine, die seit einiger Zeit meinen Weg säumen – die liegen doch nicht zufällig da! Diese Spalte im Fels, sie ist doch nicht natürlich entstanden! Sie sieht aus wie eine Wasserleitung. Ist dies eine Stadtmauer? Sind dies nicht etwa Tempelstufen? So ungefähr wurde Elea wiederentdeckt, mit römischem Namen Velia, bis dahin schlief es unerkannt unter Büschen und den Ruinen späterer Bauten.

Hier stehen keine Tempel mehr, sie sind alle untergegangen. Aber dieser Ort, der langsam, Stein für Stein, Scherbe für Scherbe, mit dem Tempo der Archäologen, aus dem Staub, so gut es noch geht, zurückgewonnen wird, dieser Ort war, ohne dass man wusste – eine bronzene Nadel, römisch – ohne dass man wusste, wo er sich befand, den Philosophen aller Jahrhunderte ein großer Begriff: Elea – hier lehrte Parmenides. Und was er lehrte, beschäftigt die Philosophie bis heute. Die graue, poröse Schicht übrigens, das ist Vulkanasche. Sie stammt vom Ausbruch des Vesuvs im Jahre 79 nach Christus, der Pompeji und Herkulaneum verschüttete.

Was können Menschen wissen?
Was ist Sein?
Ist Sein endlich?
Hat es einen Anfang?
Können Menschen – Seiende – etwas über das Nichtsein wissen? Was überhaupt können Menschen wissen?

Um solche Fragen kreist die Philosophie des Parmenides, der um 500 v. Chr. hier in Elea geboren wurde.

Dieses Tor, heute Porta Rosa genannt, ist das imposanteste erhaltene Bauwerk Velias. „Dort ist das Tor der Wege zwischen Nacht und Tag.“ Es stammt aus dem vierten Jahrhundert, ist also etwas jünger als Parmenides, dennoch denkt man unweigerlich an den Philosophen.

„Dort also, mitten hindurch, gerade dem Wege nach, lenkten die Mädchen Wagen und Pferde.“ Das Lehrgedicht, aus dem wir seine Philosophie kennen, beginnt mit der Fahrt durch ein Tor. Dahinter erwartet die Göttin Dike den Denker. „Und freundlich empfing mich die Göttin, ergriff meine Rechte, redete mich an und sagte das folgende: Jüngling, Gefährte unsterblicher Lenkerinnen, der du mit den Pferden, die dich fahren, zu unserem Haus gelangt bist – Heil dir! Denn kein schlechtes Geschick sandte dich auf diesen Weg.“

Die Eleaten liebten Dinge, die auf den ersten Blick unsinnig schienen. Und außerdem liebten sie den Widerspruch. Der gängigen These Heraklits „Alles fließt“ setzte Parmenides ein gelassenes „Alles steht!“ entgegen – und führte den logischen Beweis. Und hier, ja vielleicht hier an dieser Stelle, erheiterte sein Schüler Zenon die Zuhörer mit der Parabel von Achilles und der Schildkröte. Und brachte sie ins Nachdenken.

Der Schnelläufer Achilles kann die Schildkröte, die ein paar Meter Vorsprung hat, nicht überholen. Denn wenn der Achill die paar Meter zurückgelegt hat, ist ja die Schildkröte schon ein Stückchen weiter. Und hat Achill das Stückchen hinter sich gebracht, ist die Schildkröte eine Winzigkeit weiter, und so geht es endlos. Der Philister winkt ab und beugt sich über seinen Nudeltopf. Die Mathematik aber begann nach der Formel zu suchen, die Zenon widerlegt und beweist, daß Achilles das Tier überholt. Sie brauchte dazu bis in die Neuzeit und ist sich auch heute noch ihres Erfolgs nicht ganz sicher.

Auf dem vorspringenden Felsen, den damals das Meer umspülte – heute alles verlandet und besiedelt – steht wie ein hohler Zahn die Ruine einer Festung aus den Tagen der Anjou, 14. Jahrhundert. Sie steht – man kann nur mit den Zähnen knirschen – auf den Stufen eines Tempels, der nicht fertiggestellt wurde oder untergegangen ist. Die Küste verlief übrigens etwa dort, wo heute die Bahn fährt, die auch den Tempelberg durchbohrt. Älter als die Festungsruine, vor allem aber schöner, ist das kleine romanische Kirchlein, das Mönche im Hochmittelalter erbauten. Es steht über dem griechischen Theater, mitten auf dem Weg, der in den Tempelbezirk führte. So als wollte es den heidnischen Göttern den Weg versperren, hinab zu den Christenmenschen. Was damals noch stand von den Tempeln, weiß man nicht. Jedenfalls waren die Mönche um Baumaterial nicht verlegen.

Diese Büste des Parmenides wurde hier in Elea ausgegraben. Sie stammt aus späterer, römischer Zeit. Die Römer wußten, wer er war, und hielten ihn in Ehren. Die Archäologen haben sie ausgerechnet in die Apsis der kleinen, kämpferischen Kirche gestellt. Dorthin, wo einst das Kreuz stand. Diesen Kampf hat das Kirchlein wohl verloren.

Alles steht, nichts vergeht.