Karge Majestät. Der Geirangerfjord, Norwegen, Kommentartext von Andreas Christoph Schmidt

Norwegen – wie das klingt! Welch ein Zauber in diesem Wort liegt! Wer es ausspricht, denkt an die Fjorde. Nirgendwo auf der Welt gibt es eine zweite solche Landschaft. Und viele sagen: Dies ist das Paradies.

Von allen norwegischen Fjorden ist der Geiranger der berühmteste. Das Örtchen Geiranger ist das älteste Touristenziel in Norwegen. Die meisten kommen mit dem Schiff, gehen hier kurz an Land und kaufen Souvenirs. Oder sie steigen um in Busse und lassen sich ein Stück durch die Berge kutschieren. Wie sollte sich ein Dörfchen durch hundert Jahre Tourismus nicht verändern! Es gibt heute ein paar zu große Hotels, ein paar Andenkenbuden zuviel und ein Fjordmuseum in kühner Architektur. Dennoch ist Geiranger das Dorf geblieben, das es immer war. Am 17. Mai, Norwegens Nationalfeiertag, veranstalten seine Bewohner einen Umzug. Alle sind dabei, tragen ihre teuren Trachten und rufen Hurra. Sie feiern die Trennung Norwegens von Dänemark und die Niederschrift der norwegischen Verfassung. 1814. Außerdem feiern sie das Ende des langen nordischen Winters. Die Saison hat noch nicht so recht begonnen, man ist noch unter sich.

Ahnherr aller Norwegen-Touristen: Wilhelm II, letzter Deutscher Kaiser. Sein Bild und das seiner Gattin hängt im Hotel Union, und ebenfalls ein Gemälde seiner Yacht „Hohenzollern“, mit der er Jahr für Jahr zur „Nordlandfahrt“ aufbrach. Wilhelm der letzte liebte Norwegen. Und deswegen läßt man hier nichts auf ihn kommen. „Dem Geirangerfreund Kaiser Wilhelm“ ist dieser Obelisk am Hotel Utsikten, früher Bellevue, gewidmet. Anders als die meisten Touristen heute wußte Wilhelm, daß Norwegen nicht nur schön ist, sondern auch gefährlich. Als 1904 die Stadt Aalesund, nicht weit von hier, niederbrannte, eilte Wilhelm sofort zu Hilfe. Und auch in Geiranger half er mit Geld aus, als 1907 an dieser Stelle eine Lawine einen Bauernhof mit sich riß. Die Namen der Toten stehen auf der Rückseite des Obelisken. Kinder, Greise… Die wenigen Überlebenden gingen nach Amerika. Wie so viele andere Norweger.

Man kann sich kaum vorstellen, wie die Menschen früher hier lebten. Und doch sind die Ufer der Fjorde und die Hochtäler darüber seit fünftausend Jahren, oder länger – vielleicht viel länger, bewohnt. Die alte Straße zwischen Geiranger und dem Dörfchen Eidsdal. „Kommunevegen“ nennt sie ein alter Bauer. Wer hat ihn gebaut, den Kommunevegen? Wann? Wer hat ihn zuletzt benutzt? Es is , als sei hier im Norden die Vergangenheit gründlicher vorbei als andernorts. Heute gibt es beinah überall moderne Straßen. Jahr für Jahr werden neue Tunnel in die Berge gebohrt. Bald werden alle Orte Norwegens auch im Winter erreichbar sein. Oder verlassen. Verlassen wie dieser Hof, Blomberg, auf einer Klippe, 450 m hoch. Man kann ihn nur über einen steilen Fußweg erreichen, der immer wieder zuwächst oder verschüttet wird. Die Schiffe im Fjord sind zum Greifen nah – und gehören doch in eine andere Welt. Aufstieg nach Skageflaa, ebenfalls ein unbewohnter Bauernhof. Vom Fjord aus ist die schmale Stiege im Fels nicht zu erkennen. Wer hier wohnte, war sein eigener Herr, ein kleiner König. Eines kargen Reiches König. Was nicht hochgetragen werden konnte – 250 m Felswand – das gab es eben nicht. Früher kümmerte man sich kaum um die alten Höfe. Gelegentliche Liebespärchen schnitzten ihre Namen in alte Balken, vereinzelte Wanderer, Touristen, nahmen als Souvenirs mit, was sich tragen ließ. Das Bett blieb. Ein Meter Siebzig mal Eins Zehn. Ole Andrias Rasmussen og Lovise Larsdatter Skageflaa. 1871. Wie das gewesen sein mag für Lovise Larsdatter, als junges Mädchen auf diesen Einödhof zu kommen, in dieses Bettchen. Für das ganze Leben.

Skageflaa wird restauriert. Teilweise sogar neu aufgebaut. So, wie es ganz früher einmal gewesen ist. Wenigstens so ungefähr. Ein Verein der Fjordfreunde trägt den Großteil der Kosten.
Ja, die einsamen Höfe über dem Fjord sind wiederentdeckt worden. Sie stehen heute nicht mehr für Elend und Abgeschiedenheit, für ein Leben in Gefahr und Kummer. Sie sind Orte von historischer Bedeutung geworden, nationales Kulturerbe. Aber das Baumaterial wird nicht mehr hochgeschleppt, wie einst, sondern mit dem Hubschrauber hergeflogen. Skageflaa aus der Sicht des nächsten Nachbarn, vom Hof Knivsflaa auf der Nordseite des Fjords. Knivsflaa ist bereits vor mehr als hundert Jahren verlassen worden. Wegen der Bedrohung durch einen überhängenden Felsen. Doch die befürchtete Lawine blieb aus, Knivsflaa verfiel langsam. Heute hütet sein Besitzer den Hof mit großer Hingabe. Manchmal kommen Besucher her. Kürzlich übernachtete sogar die Königin hier.
Ihr Eintrag im Gästebuch. „Majestätisch“ nennt sie die Natur hier oben. Wie das wohl ist – in diesem Bettchen zu schlafen, beim Aufwachen aus dem Fenster zu sehen und sich zu sagen: Ich bin Königin hier. Dies ist mein Land.

Früh am Morgen muß Lauritz Solevaag wieder hinaus, die Netze einholen. Zum letzten Mal. Fischer ist er nur im Winter. Im Sommer ist er Hafenmeister, vertäut Ozeanriesen vor Geiranger und holt Kreuzfahrttouristen an Land. Eigentlich aber ist er Seemann. Er hat die Welt gesehen. Doch nichts ist wie die Fjorde.