Griff nach der Freiheit – der 17. Juni 1953, Kommentartext

00:07 Der 17. Juni 1953 – ein Tag, der immer wieder in Vergessenheit zu geraten droht. Wer    weiß, was da war?

 

00:22 Aufstand in der DDR. Was für ein Aufstand? Wessen Aufstand? Warum?

 

00:42 Am Nachmittag zogen sowjetische Panzer in Ost-Berlin auf.

 

01:07 Der Tag danach. Was man so „Ruhe und Ordnung“ nennt. Es hat Tote und Verletzte gegeben. Der Spuk ist vorbei. Scheinbar.
Etwas blieb haften. Für immer, bis ans Ende der DDR. Peter Ruben, Philosoph aus Ost-Berlin.

 

02:31 Die Arbeiterklasse, dargestellt in einem Wandbild am Haus der Ministerien in Berlin, das zuvor Reichsluftfahrtministerium gewesen war und heute das Bundesfinanzministerium ist. Das Bild einer unter Führung der Arbeiterklasse glücklich und produktiv vereinigten Gesellschaft. Der Platz heißt seit kurzem „Platz des 17. Juni“

 

03:02 Auch dies ist ein Bild der Arbeiterklasse, wie die Staatspartei SED sie sich wünschte. Demonstration am 21. Juni 1953. Ministerpräsident Grotewohl und Parteichef Ulbricht trauten sich wieder vor das Volk. Vor dem Haus der Ministerien. Zuvor waren sie untergetaucht. Der Aufstand, sagten sie, war kein Aufstand, sondern ein faschistischer Putschversuch.

 

04:14 Walter Ulbricht, der sich „Baumeister des Sozialismus“ nennen ließ. Wie man den Sozialismus aufbaut, hatte er in den dreißiger Jahren in Moskau gelernt, bei Stalin. Aber es gab einen großen Unterschied zu Stalins Reich: Ulbrichts Untertanen konnten fliehen. Es gab noch keine Mauer damals. Allein im März 1952 flohen 31000/42000.

Der Baumeister fährt aufs Land. Zu der immer schlechter werdenden Ernährungslage trug die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und die darauf folgende Flucht vieler Bauern in großem Maße bei. Die Produktionsgenossenschaften funktionierten nicht wie geplant.

Die Arbeitsproduktivität in der Industrie sollte um 72% steigen. Um das zu erreichen, wurden die Normen heraufgesetzt. In der Propaganda ging es dabei demokratisch und freiwillig zu, in der Realität kam es zu Streiks. Im Mai 1953 machte die SED Schluß mit den Diskussionen. Die Normerhöhung wurde jetzt befehlsmäßig angeordnet.

Baustelle Stalinallee. Ein Aufatmen schien durchs Land zu gehen. Hier allerdings, bei den stolzen Bauarbeitern des Rennommierprojekts, las man die Beschlüsse zum Neuen Kurs kritisch. Kein Wort von einer Rücknahme der Normerhöhung. Das Regime schwankte, hatte Schwäche gezeigt. Aber an den Normen glaubte es festhalten zu können?

Dienstag, 16. Juni. Marsch der Arbeiter von der Stalinallee zum Haus der Ministerien. Plötzlich stand da eine Arbeiterklasse, mit deren Auftreten niemand gerechnet hatte. Kein Ulbricht, kein Grotewohl wagte sich vor die Menge. Ein Minister niederen Rangs, Selbmann mit Namen, verkündete sofort die Rücknahme der Normen, aber es war zu spät – andere Forderungen waren laut geworden: Freie Wahlen! Nieder mit der Regierung!

Im Westen waren alle überrascht, sogar die, die sich den Kampf gegen die DDR auf die Fahnen geschrieben hatten.

 

12:32 Am 17. Juni kam es überall im Zentrum Ost-Berlins zu Menschenaufläufen. Von den Fabriken an den Stadträndern – es gab damals noch Industrie in Berlin – zogen Arbeiter in die Stadtmitte. Der Zug der Arbeiter von Hennigsdorf führte durch den französischen Selktor, und darum konnte er gefilmt werden. Begeisterte Gesichter.

 

14:18 Auf dem Obermarkt, damals Leninplatz in Görlitz. Eine durch die Oder-Neiße-Linie geteilte Stadt, aus deren Ostteil die Deutschen vertrieben worden waren. Die meisten von ihnen lebten schlecht und recht in Görlitz. Die Revidierung der Ostgrenze war daher hier eine der ersten Forderungen.

Es wurde ein Stadtkomitee gebildet, der Bürgermeister abgewählt, eine Bürgerwehr ins Leben gerufen. Die SED-Kreisleitung und die Dienststelle der Stasi wurden gestürmt.

 

16:46 Der sowjetische Hochkommissar Semjomow, seit Anfang des Monats, seit dem Scheitern von Ulbrichts Sozialismus-Aufbau im Amt. Bei ihm liefen die Fäden zusammen und an seinem Amtssitz in Berlin-Karlshorst versteckte sich die DDR-Regierung am 17. Juni. Für einen Tag lag ihre Bedeutungslosigkeit offen.

 

17:27   Fröhliche Gesichter in Halle. Am Morgen waren die Arbeiter der Lowa-Werke, Lokomotiv- und Waggonbau, ins Zentrum marschiert und hatten immer mehr Menschen mit sich genommen. Auf dem Hallmarkt versammelten sich 60000.

 

18:20 Rücktritt der Regierung; freie, geheime, gesamtdeutsche Wahlen. Rücknahme der Normen, Senkung der Lebensmittelpreise, Erhöhung der Renten – alles kam hier zusammen. Und tags darauf die Forderung, die Toten des Vortags würdig bestatten zu dürfen.

 

19:55 Berlin. Während die Kasernierte Volkspolizei versucht, das Haus der Ministerien zu sichern, gehen am Potsdamer Platz Kioske in Flammen auf. Das Columbus-Haus, ein ehemaliges Warenhaus, in dem jetzt eine Polizeidienststelle einquartiert ist, wird belagert.

SED-Funktionäre werden erkannt und verprügelt. Die West-Berliner Polizei führt einen von ihnen ab – in Sicherheit. Die erklärte Gewaltlosigkeit, mit der 1989 gegen die SED-Herrschaft demonstriert wurde, geht zum Teil auf die Erfahrung von 1953 zurück.

 

22:26 Rathenow an der Havel, vor dem ehemaligen HO-Kaufhaus. Hier kam es in der Tat zu einem Lynchmord, dem einzigen. Beobachtet wurde er von Schulkindern.

Hagedorn war Volkspolizist gewesen, jetzt Leiter des HO-Betriebs, wo ihn die Menge aufspürte. Einmal soll er damit geprahlt haben, daß er 300 Faschisten und Agenten in Gefängnis gebracht habe, daher der Haß. Auch Ursula Jautzkes Vater war im Gerfängnis.

 

25:27 Es waren mehr Menschen hier, als Bitterfeld Einwohner hatte – 12000 allein waren von den AGFA-Werken in Wolfen gekommen. Sie formulierten Forderungen, diktierten dem Lehrere Fiebelkorn ein Telegramm an die Regierung und sangen gemeinsam das Deutschlandlied. Viele konnten sihc der Tränen nicht erwehren.

Es kam an und fand sofort seinen Weg in die Akte des Streikführers Paul Othma, der nach der Versammlung mit anderen das Rathaus besetzt hatte. 12 Jahre Haft war die Strafe. „Der Faschist Othma“.

 

27:48 Brandenburg. Das Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft, damals Amtsgericht.Hier hatte der 17. Juni eigentlich schon am 12. begonnen, direkt nach der Verkündigung des Neuen Kurses. Weil eine Frau vergeblich auf die Freilassung ihres Mannes wartete, eines inhaftierten Transportunternehmers. Der heutige Generalstaatsanwalt hat die Geschichte seines Hauses studiert.

 

30:47 Halle am frühen Nachmittag. 700 Demonstranten stehen vor dem Gefängnis „Roter Ochse“. Hier war auch die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Polizei hat Schießbefehl – fünf/vier Tote und zahlreiche Verletzte.

In der Kleinen Steinstraße – auch dort war ein Gefängnis – wurden viele Gefangene befreit, die meisten waren Frauen. Fast alle wurden schon in der Nacht wieder eingefangen.

 

31:49 Unter ihnen war auch Erna Dorn, die vermeintliche KZ-Aufseherin, die sich nach ihrer Befreiung an die Spitze des Aufstands gestellt und Reden gehalten haben soll.

Sie wurde zum Tode verurteilt. Eine verwirrte Frau, die wohl keins der Verbrechen begangen hatte, derer sie sich immerzu bezichtigte.

 

32:59 Fröhliche Gesichter in Leipzig. Gegen Mittag waren hier schätzungsweise 100000 Menschen auf den Straßen. Auch hier waren Staatsanwaltschaft und U-Haft-Anstalt ein Brennpunkt. Überall in der DDR Sturm auf die Bastille.Wer zweifelte noch daran, dass der Aufstand erfolgreich, dass eine Revolution im Gange war? Doch dann kamen die Panzer.

 

35:05 Berlin, Potsdamer Platz. Die Pollizeistation im Columbia-Haus wird geplündert. Wenig später steht das Haus in Flammen. Den Nutzen hatte die DDR-Regierung: Das konnten doch nur faschistische Agenten aus dem Westen getan haben!

 

38:34 Was fing der Westen nun mit dem 17. Juni an? Man hatte zugesehen. Man hatte nichts kommen sehen. Und schon gar nicht hatte man helfen können. Die Botschaft nach „drüben“ war: Ihr seid allein. Wir sind machtlos. Wir werden den 17. Juni fortan für Euch feiern. Als Tag der „deutschen Einheit“.